In Deutschland erscheinen jährlich über 60.000 Bücher. Doch wer entscheidet, was auf den Büchertischen landet? Zu weiß, zu männlich, zu konservativ seien viele Neuerscheinungen im Mainstream lautet die Antwort manch unabhängiger Kleinverlage. Doch kann ihnen der Aufbruch, die Revolution des Buchmarktes in Zeiten von Pandemie und Papierkrise gelingen? //
Eigentlich habe sie gar keine Lust mehr über ihren Verlag zu reden, sagt Nikola Richter lachend. Sie steht vor dem Haupteingang eines alten Fabrikgebäudes in Neukölln. Mehrere Kreativagenturen und Freischaffende haben sich hier zusammen getan. Richter möchte viel lieber über die Bücher sprechen, die sie in ihrem Ein-Frau-Verlag mikrotext herausbringt. Die mikrotext-Bücher sind klein und kompakt. Bequem passen sie auf eine ausgestreckte Hand und damit in die größeren Jacken- und Manteltaschen. Das Büro von mikrotext liegt im 3. Stock des Gebäudes und geht von einem weiten Flur ab, in dem ein Rennrad steht und Plakate hängen. Im Büro selbst herrscht eine entspannte Arbeitsatmosphäre. Ein Redakteur, mit dem sich die Verlegerin das Zimmer teilt, sitzt in eine Decke eingewickelt am Schreibtisch und tippt in seinen Laptop. Es sieht aus wie in einer WG-Küche. Tee und Kaffee stehen im Regal neben einem Wasserkocher. Es herrscht konzentrierte Fülle auf dem Schreibtisch.
Das Selbstwertgefühl sei wichtig beim Verlegen, erklärt Nikola Richter später auf einem Spaziergang am nahe gelegenen Kanal. Man müsse überzeugt davon sein, dass man zeitlose, gute Titel im Programm habe. Bücher, die es sich lohnt zu lesen. Wie beispielsweise “Die ganze Geschichte” von Abou Saeed, der als Facebook-Literat, syrischen und deutschen Alltag beschreibt und heute in Berlin lebt. Oder Rasha Abbas Kurzgeschichten “Eine Zusammenfassung von allem was war”. Im Februar hatte Sebastian Nübling die Kurzgeschichtensammlung, in der es um die Suche nach Identität und Halt geht, am Gorki Theater inszeniert.
„Das Selbstwertgefühl ist wichtig beim Verlegen.“
Nikola Richter von mikrotext
Verleger*innen tragen eine große Verantwortung. Was wählen sie aus, was landet irgendwann auf dem (digitalen) Verkaufstisch und was verschwindet in den Schubladen? Welches Buch schafft es vielleicht bis auf die Bühne oder ins Fernsehen? Intuitiv treffe sie die Entscheidungen und das Programm erschließe sich dann im Prinzip rückwirkend, erklärt die Verlegerin von mikrotext. Nikola Richter denkt und spricht schnell. Sie läuft zügig, beobachtet genau, was um sie herum vorgeht. Ideen sprudeln aus ihr heraus, als gäbe es da irgendwo eine unversiegbare Quelle. Ihre verlegten Texte verbinden neue Narrative sowohl inhaltlich als auch ästhetisch. Viele der Arbeiten sind oftmals im Internet entstanden. Was diese Textform häufig von “klassischen” Texten unterscheidet, ist die sogenannte “Ansprachesituation”. Soll heißen, dass die Texte bereits in Dialogen gedacht und auch so geschrieben wurden. So lag der Anfang von mikrotext 2013 auch bei digitalen Originalen. Das öffnete völlig unbekannten Autor*innen die Tür auf den Buchmarkt. Im Internet fallen häufig die klassischen “Gatekeeper” weg. Jede*r kann veröffentlichen, ohne durch Redaktion, Lektorat zu wandern oder von Agenturen vermittelt zu werden. Das hat Vor- und Nachteile, aber unbekannte Autor*innen werden so zumindest nicht sofort aussortiert.
Bei mikrotext pflegt die 46jährige Verlegerin gleichzeitig Kontakte, schaut sich auf dem aktuelle Autor*innenmarkt um, wählt aus und erledigt vom Vertrieb zur Pressearbeit alles selbst. Große Verlage arbeiten häufig mit vielen verschiedenen Abteilungen und mit Agenturen, die neue Autor*innen vorschlagen. Aber die Auswahl ist groß und der Konkurrenzdruck in Zeiten von Papiermangel und Inflation noch härter. Immer schwieriger sei es für Autor*innen abseits des Mainstreams und der bekannten Bestseller-Listen einen Verlag für sich zu finden, heißt es auch in Verlagskreisen hinter vorgehaltener Hand. Wirklich Neues trauen sich aktuell die wenigsten Häuser. Das momentan weltweit größte Verlagshaus ist Penguin Random House und inzwischen für ein Viertel aller Buchpublikationen verantwortlich. Seit der Fusion und Übernahme von Marktanteilen der Verlags- und Mediengruppe Pearson im Jahr 2020 gehört Penguin Random nun mehrheitlich dem deutschen Medienkonzern Bertelsmann. Über 300 Einzelverlage tummeln sich nun weltweit unter dem Dach von Penguin Random House. Das sind völlig andere Größen als bei unabhängigen (Klein-) Verlagen. Es kommt also nicht nur darauf an, was verlegt wird, sondern auch, wer was verlegt. Große Häuser haben mehr Reichweite und agieren international.
Die Arbeit eines Verlags versteht Nikola Richter politisch, denn die Auswahl der Bücher ist eine öffentliche Handlung, die sie angreifbar macht. Und zugleich sei es “Care-Arbeit für den Buchmarkt, um bestimmte Dinge, die nicht sichtbar sind, sichtbar zu machen.” Dabei verselbständige sich ein Verlag auch. Denn die Autor*innen und ihre Werke machten mit ihren Stimmen den Verlag aus, würden ihn als Ganzes ergeben.
Auch Yasemin Altınay hat 2019 mit ihrem Verlag Literarische Diverse politisch gedacht, als sie einen Raum für marginalisierte Stimmen schaffen wollte, die sonst in der breiten Masse des Literaturbetriebs eher untergehen. Im letzten Jahr kam zudem ein erster Lyrikband von Ọlaide Frank heraus, in dem es um die Realitätserfahrungen einer Schwarzen Frau geht. Altınay war 2021 eine der Titelträger*innen der Auszeichnung Kultur- und Kreativpilot*innen. Die Bundesregierung vergibt sie jährlich an Unternehmen der Kultur- und Kreativwirtschaft, um junges und vielseitiges Unternehmertum zu unterstützen. Trotz dieser Unterstützung aber stößt die Verlegerin immer wieder an strukturelle Grenzen, wie sie selbst sagt. Verlagsauslieferer melden sich nicht immer zurück und allein ist der Vertrieb fast nicht zu stemmen. Die Frau, die nichts Geringeres will als die Branche zu revolutionieren, die Verlegen als Selbstermächtigung versteht, muss sich zwischendurch zurückziehen und Kräfte sammeln. Der Kampf gegen das etablierte System ist zehrend. Ihre 1-Zimmer-Wohnung im Osten von Berlin soll ein Rückzugsort sein und war aber in den ersten zwei Jahren seit Verlagsgründung vor allem Redaktionsbüro und Lager gleichzeitig. Die Magazine stapelten sich im schmalen Buchregal neben dem Sofa und Bestellungen packte Yasemin Altınay persönlich ein. Im Frühjahr 2022 ging das nicht mehr. Sie hat Lager und Versand an ein Familienunternehmen abgegeben. Im Sommer redigierte sie die fünfte Ausgabe des Magazins zum Thema “Traum”, dass am 22. August erschienen ist, in einem kleinen Büro. Das hatte sie zusätzlich angemietet, damit die 1-Zimmer-Wohnung wurde wieder zum Rückzugsort werden konnte.
Die Magazine von Literarische Diverse liegen unter anderem im Neuköllner Kultbuchladen Shesaidaus. Hier finden Leser*innen fast alles zu den Themen Gender, Feminismus, Ani-Rassismus und Anti-Seximus aus der Sicht von Frauen und queeren Autor*innen. Öffnet man die Tür vom wuseligen Kottbusser Damm kommend, tritt man in einen klaren, freundlichen Raum, der gut überschaubar ist. Mit etwas Glück riecht es nach frisch gebackenen Zimtschnecken, die es im hinteren Teil des Ladens zu kaufen gibt, dazu Kaffee oder Tee. Manchmal trifft man auch auf Autor*innen, deren Bücher hier verkauft werden. Man kann dann seine Zimtschnecke neben Carolin Emcke verputzen oder trifft auf Linus Giese, der bis vor kurzem Mitarbeiter von Shesaid war. Es ist vor allem ein relativ junges Publikum, das hier seit Dezember 2020 stöbert. Auch Yasemin Altınay ist darunter, die mit der Besitzerin Emilia von Senger ein paar Worte wechselt. Die beiden kennen sich von früheren Lesungen, deshalb war die Literarische Diverse von Anfang an auf dem Verkaufstisch dabei. Doch nicht nur der Buchladen ist klein. Auch die Auflagen der Literarischen Diverse sind es. Wen also können die Idealist*innen der Buchszene erreichen und was können sie wirklich verändern?
„Es ist auch mein One-Woman-Vorteil, dass ich keinen großen Verlag an der Backe habe. (…) Ich bin flexibler.“
Yasemin Altınay von Literarische Diverse
Emilia von Senger wünscht sich paritätische Verlagsprogramme, wie sie dem ZDF in einem Interview erklärte und dass trans Menschen und Menschen mit Migrationserfahrung ebenfalls in den Verlagen sitzen. Ihren Buchladen sieht sie als eine “Gleichstellung in minimaler Art und Weise von einer extremen Ungerechtigkeit, die in unserer Gesellschaft jeden Tag passiert.” Auch für Yasemin Altınay ist der Verlag Literarische Diverse ein Herzensprojekt, um Autor*innen und Sichtbarkeit zu gewinnen. “Ich bin nicht an das Projekt gegangen mit dem Ziel super bekannt zu werden und daraus Gewinn zu schöpfen,” erklärt sie im Gespräch. Sie überlegt, lässt sich Zeit bei den Antworten und setzt dann nach: “Und es ist auch mein One-Woman-Vorteil, dass ich keinen großen Verlag an der Backe habe und ich meine Ideen erst Mal mit 20 Abteilungen absprechen müsste. Ich bin flexibler und kann spontan entscheiden.” Wenn es also aktuelle Entwicklungen gibt, kann sie direkt darauf reagieren und das Thema der nächsten Magazin-Ausgabe entsprechend anpassen. So kam es zu dem Thema der dritten Ausgabe von Literarische Diverse mit dem Titel “Widerstand”, weil im August 2020 einige Rechtsextreme und Querdenker versuchten den Reichstag zu stürmen. Die Auflage mit 1500 Exemplaren ist bis heute ausverkauft.
2021 wurden knapp 64 000 Bücher in Deutschland verlegt, etwas weniger als im Jahr zuvor. Seit Mai diesen Jahres sinken die Absatzzahlen wegen des Angriffskrieges von Russland auf die Ukraine und den damit verbundenen Lieferengpässen bei Holz, also auch Papier und der steigenden Inflation. Aber die Verkaufszahlen des Internetbuchhandels wachsen seit der Pandemie stetig an. Mehr und mehr Menschen kaufen digital. Für kleine, unabhängige Verlage ist der Verkauf über Online-Shops auf Webseiten und den Sozialen Medien sowie die großen und kleinen Buchmessen besonders wichtig. “Mein Projekt wäre ohne Social Media wahrscheinlich nicht möglich oder es hätte viel länger gedauert mich zu etablieren. Auch finanziell wäre es viel aufwendiger,” ist sich Yasemin Altınay sicher. Am Anfang ist sie noch alleine durch die Stadt gezogen und hat Poster geklebt. Das aber hat sie schnell wieder verworfen. Zu groß war der Aufwand. Auch der Buchladen Shesaid setzte von Anfang an auf die sozialen Medien und hatte schon vor der Eröffnung im Dezember 2020 auf Instagram 20 000 Follower*innen. Nikola Richter ist von jeher in den Sozialen Medien umtriebig und nutzt jede Gelegenheit, um ihren kleinen Verlag vorzustellen. Anfang Juli fand am Wannsee im Literarischen Colloquium eine Freiluftmesse mit 40 Verlagen und vielen Lesungen bei semi-sommerlichen Temperaturen mit Blick auf den Wannsee statt. Es braucht nicht immer die ganz großen Buchmessen, auch lokale Veranstaltungen sind attraktiv, so scheint es.
Wie wichtig die großen Messen dennoch für Verlage und Autor*innen sind, zeigt die Aufregung immer darüber, wenn die Buchmesse (wieder einmal) abgesagt wird. Denn sie ist der Ort der Vernetzung und der Werbung. Durch ihre Größe und Reichweite hat sie die Macht der Sichtbarkeit. Dadurch tragen die Organisator*innen ein gewisses Maß an Verantwortung. Messen werden häufig von Stadt und Land gefördert. Durch die Pandemie verursachten Ausfälle wurden beispielsweise mithilfe eines Absicherungsprogramms von Bund und Ländern, also von Steuergeldern finanziell aufgefangen. Im Corona-Jahr 2021 gab es deshalb 4 Millionen Euro aus dem Konjunkturprogramm Neustart Kultur. Anfang Februar gab die Leipziger Buchmesse bekannt, dass sie “schweren Herzens” die diesjährige Messe wieder absagen müsse. Grund waren nach eigenen Angaben die vielen vorausgegangenen Stornierungen diverser Aussteller*innen, da es durch die Omikron-Variante des Coronavirus personelle Engpässe gebe. Die Pressesprecherin der Buchmesse Leipzig machte am Telefon etwas angespannt aber bemüht freundlich klar, dass es durch alle Bereiche hindurch Absagen gegeben habe, nicht nur große sondern auch kleine Verlage hätten Abstand von einer Teilnahme genommen. Auffällig war dennoch, dass nach der Stornierung der Holtzbrinck-Gruppe (wozu u.a. die Verlage Rowohlt, Kiwi, S.Fischer gehören) die Messe einen Tag später abgesagt wurde. Nikola Richter erklärt im Deutschlandfunk Kultur dazu, dass kleine Verlage und ihre Autor*innen bei diesen Großkonzepten häufig nicht mitgedacht würden. Sie vermisse kreative Lösungen, den Versuch, sich an die gegebene Situation anzupassen. Kurzerhand organisierte sie einen digitalen Buchmesse-Empfang, den sie über ihren mikrotext-Instagramkanal bewarb.
Nicht nur die Verlegerin von mikrotext versuchte den Umständen entsprechend zu reagieren. Auch andere kleinere und größere unabhängige Verlage gaben nicht auf und schufen auf dem Werk 2- Gelände in Leipzig Ende März eine alternative Pop up-Messe. Das einstige Industriegelände, das heute zwischen alten Backsteinmauern und auf Kopfsteinpflaster ein Ort für Konzerte und Ausstellungen ist, war der perfekte Platz für ein Treffen aller Buchliebhaber*innen jenseits der typischen Großveranstaltungen. Bunt ging es zu in der umgebauten Halle mit Loft-Flair und die Idealist*innen der Szene zeigten auch hier, dass es Interesse und Ideen für alternative Formen der Bücher und Buchvermarktung gibt. 10 000 Besucher seien da gewesen, erzählen Leif Greinus und Gunnar Cynybulk, die es geschafft hatten, innerhalb kürzester Zeit mit viel Hilfe und Unterstützung das Event auf die Beine zu stellen. Auch das ist ein Akt der Selbstermächtigung zwischen Künstler*innenateliers und Ausstellungshallen. Dass sich Verleger*innen und Autor*innen auch sehr spontan allein organisieren könnten, hat die Szene im Frühjahr zumindest unter Beweis gestellt.
Am Ende sind die Leser*innen ausschlaggebend. Es gilt, deren Lebenswelt abzubilden und neue Debatten anzustimmen und Gedankengebäude zu ermöglichen. Deshalb muss es um die Bücher gehen, wie Nikola Richter sagt. Die kleinen Buchhandlungen fernab der großen Buchhandelsketten leben von und mit den Vorschlägen und Nachfragen der Kundschaft. Häufig gibt es persönliche Beziehungen zwischen Händler*in, Käufer*in und Autor*in. Außerdem stehen die privaten Buchhandlungen oft in engem Kontakt mit den Verlagen und können sich durch die Zusammenarbeit mit Kleinverlagen individuell ausrichten. Der Geist in diesen Buchläden ist persönlich und setzt bewusst inhaltliche Akzente. Der Unterschied zu großen Ketten, die sich meistens in Einkaufsstraßen oder -zentren befinden und sich über zwei, manchmal drei Etagen erstrecken, ist offensichtlich. Wo Ketten auf große Auswahl klassischer Genres wie Krimi, populäre Sachliteratur und Reisebücher setzen, dazu noch die Bestsellerliste des Spiegels abarbeiten, gibt es weniger Fokus auf Nischenthemen und damit kaum Platz für vielfältigere Stimmen. Als Multiplikatoren sind die privaten Buchläden also für kleinere, unabhängige Verlage nicht weg zu denken, garantieren sie doch etwas Vielfalt auf einem von wenigen großen Verlagshäusern bestimmten Markt.
(Eine gekürzte Version der Reportage ist Anfang Oktober im nd erschienen. Darin gab es Fehler, die hier korrigiert wurden. Der Text wurde im Rahmen der Freien Journalistenschule als Abschlussarbeit geschrieben.)