Wow, what a stinker

Oder wie 2022 das bisher krasseste Jahr des 21. Jahrhunderts war

Es wird heißer in jeder Hinsicht. Aber das betrifft nicht mehr nur Flora und Fauna. Es zündelt auch beim Nachbarn, gerade jetzt wo wir uns mehr schlecht als recht durch die Pandemie gehievt haben und aufatmen wollten. Der Wahnsinn eines kleinen Mannes hält mal wieder die (westliche) Welt in Atem. Aber Wladimir ist kein Einzelgänger und auch nicht im luftleeren Raum entstanden. Die Frage, wie viel wir aus der Geschichte lernen (können), bleibt in der Tat eine Art Dauerklassiker.

Und was machen wir? Wir verdrücken uns.

Schwan aus der Nachbarschaft, der sich verdrückt im Dezember 2022

Ich stehe zwischen Taschen und Klamotten, eine Tüte mit Essen dazwischen. Zur Jahreswende und über die Feiertage fahren wir nicht zur Familie. Wie immer entziehen wir uns dem Weihnachtsfest, verkriechen uns irgendwo und zünden Kerzen in den Rauhnächten an. Ich schreibe Wünsche auf kleine Zettel für das kommende Jahr. Ganz oben wird darin dieses Mal definitiv stehen: Please don’t suck again. 

Im letzten Jahr waren wir in einem kleinen Haus an einem dänischen Fjord. Ich hatte mich auf lange Fjordspaziergänge mit dem Whippet gefreut und die Abende vor dem Ofen geplant. Unser felliges Familienmitglied aber hat sich von besagtem Ofen kaum weg bewegt. Die Spaziergänge also fanden ohne ihn statt. Ich dachte, dass 2022 so eine hübsch gerade Zahl ist, dass alles schon irgendwie gut gehen wird im nächsten Jahr. Ich war kraft meiner Natur sehr optimistisch. Das mag auch an der tief stehenden Sonne gelegen haben, die die norddänische Moorlandschaft immer wieder in faszinierende Farben tauchte. Dieses Licht über dem Wasser, das Orange und Gelb am Nachmittag, es hat mich frohgemut gestimmt. Die Wünsche und Ideen für das neue Jahr waren voller Optimismus und hatten sehr wenig mit dem Weltfrieden zu tun.

Wie immer ist der Januar ein harter Monat. Ich finde, es ist der schlimmste Monat des Jahres, aber 2022 war er besonders dunkel und lang. Wir haben uns trotz größter Zurückhaltung und mehrfacher Impfungen mit Omicron angesteckt und durch die Wochen gefiebert. Dem geliebten, alternden Whippet ging es aufgrund seiner versagenden Nieren und trotz Medikamente und aller möglichen Kräuter, die ich ihm in meiner Verzweiflung gab ebenfalls immer schlechter. Wir wussten, was kommen würde und verdrängten den Gedanken vehement. Denn, wenn man nicht daran denkt, nicht darüber spricht, dann findet es nicht statt, dann ist es nicht real. Oder?

Anfang Februar aber konnten wir die Tatsachen nicht mehr ignorieren. Wir flüsterten, entsetzt und ängstlich. Mitte Februar mussten wir ihn gehen lassen – den besten Hund aller Zeiten. Ich weiß nicht, wann ich, wann wir das letzte Mal so viel weinten. Sein Halsband hängt noch immer im Flur an der Garderobe. Manchmal reden wir noch mit ihm. Ich hoffe, er verzeiht es uns.

Für Tränen gab es in diesem Jahr außerordentlich viele Anlässe. Tränen der Wut, des Entsetzens, der Abscheu aber auch Freudentränen und Tränen der Hoffnung. Korrekt, ich bin nah am Wasser gebaut. Was drin ist, wird garantiert raus gespült. Ich kann dagegen nicht viel machen.

Als ich am 24. Februar sehr verschlafen morgens die entsetzte Nachricht meiner russischen Freundin Zhenya bekam (“Can you fucking believe it??”), starrte ich sehr lange auf den Bildschirm meines Handys. Geschah das wirklich? Es geschah wirklich und wir waren entsetzte Zuschauer*innen eines Angriffskrieges, der Folgen nach sich ziehen wird, die wir noch gar nicht absehen können. Die Hilflosigkeit, die viele spürten, ist nur schwer zu ertragen. Deshalb war der Berliner Hauptbahnhof auch voll von Freiwilligen, die auf die Züge aus Polen warteten, in denen Ukrainer*innen ankamen. 

Nichts tun können, nichts an den Tatsachen ändern zu können, ist das schlimmste aller Gefühle. Hilflos vor der Klimakatastrophe zu stehen. Hilflos auf brutalste Regime wie die Taliban in Afghanistan oder die Mullahs im Iran zu sehen, ist schwer erträglich (und natürlich nicht zu vergleichen mit den Schrecken, den die Zivilbevölkerung in Afghanistan oder Iran ausgesetzt sind.) Irgendwas muss man doch tun können: Also werden Beiträge in den sozialen Medien geteilt, Spenden- und Patenschaftaufrufe gestartet, Demonstrationen geplant, Artikel geschrieben. Und am Ende bleibt man dennoch mit dem Gefühl zurück, zu wenig getan zu haben, zu oft weiter geklickt zu haben, weil die Belastungsgrenze irgendwann erreicht war. Als die ersten Berichte über die Hinrichtungen von iranischen Demonstranten geteilt wurden, war klar, dass es keine Belastungsgrenze geben durfte. Wir müssen hinsehen, wir müssen zeigen, dass wir diese unglaublich tapferen Menschen nicht vergessen. 

Berliner Tiergarten, 22. Oktober 2022

Wenn es sehr schlimm wurde in diesem Jahr, habe ich nach den alten Weisen gesucht. Also Menschen, die sehr vieles irgendwie schon gesehen und erlebt hatten und trotzdem nicht in Zynismus erstickten. Menschen mit Humor. Ich landete bei den großen Ladies: Fred Vargas Krimis von leicht durchgeknallten Typen, die alles andere als erfolgreich waren; Toni Morrisons Essays und Alice Munros Kurzgeschichten. Es gab eine fantastische Ausstellung zu Louise Bourgeois’ Plastiken und Skulpturen, an die ich immer noch denke und die mich tief in die Beziehungsarbeit zur eigenen Familie geschubst hat. 

Gerde aber entdecke ich Margaret Atwoods Essays, nachdem ich ihren Newsletter abonnierte und feststellte, wie klug und scharfzüngig die große kanadische Autorin ist. „Burning Questions“ heißt die aktuelle Sammlung ihrer Essays. Darin schreibt sie unter anderem über das Buch „The Gift“ von Lewis Hyde und sie endet mit dem Satz: „Geschenke transformieren die Seele in einer Art wie es einfache Gegenstände nicht können.“ Auf Deutsch klingt das deutlich kitschiger und sperriger als auf Englisch, aber das ist für einen anderen Text gedacht. 

Ich denke, dass wir vielleicht anfangen sollten, die richtigen Geschenke zu machen. Eben solche Geschenke, die uns berühren, uns verändern: Der eine Anruf, von dem wir glaubten, ihn nie tätigen zu können oder das Gespräch, vor dem wir zurückschrecken, weil es alle Beteiligte zu sehr schmerzt oder uns schlicht so unangenehm ist, dass wir glauben, alle würden einfach umfallen, wenn man das Thema anspricht. Kleiner Spoiler: Die Angst davor ist meistens größer als die Situation selbst und in den seltensten Fällen fallen wir um. Manchmal ist das aber auch okay: umfallen, entsetzt sein und lernen, weiter zu atmen. Denn es geht ja immer weiter. Nichts hört einfach auf. Morgen geht die Sonne fast genauso spät und wintermüde auf wie gestern. Aber sie geht ganz bestimmt auf. Einfach so. Manchmal nach den schlimmsten Verlusten, fühlt es sich an wie die reinste Frechheit. Manchmal ist es aber auch beruhigend. Es geht weiter und wenn wir uns trauen die großen Fragen zu stellen, kommen wir auch mit dem Krempel klar, der 2023 auf uns zukommt. Ganz sicher.

Viele Grüße aus dem Zug, der uns gen Westen bringt. Wir wollten schauen, ob es da was Neues gibt.

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Verlegen als Selbstermächtigung

In Deutschland erscheinen jährlich über 60.000 Bücher. Doch wer entscheidet, was auf den Büchertischen landet? Zu weiß, zu männlich, zu konservativ seien viele Neuerscheinungen im Mainstream lautet die Antwort manch unabhängiger Kleinverlage. Doch kann ihnen der Aufbruch, die Revolution des Buchmarktes in Zeiten von Pandemie und Papierkrise gelingen? //

Eigentlich habe sie gar keine Lust mehr über ihren Verlag zu reden, sagt Nikola Richter lachend. Sie steht vor dem Haupteingang eines alten Fabrikgebäudes in Neukölln. Mehrere Kreativagenturen und Freischaffende haben sich hier zusammen getan. Richter möchte viel lieber über die Bücher sprechen, die sie in ihrem Ein-Frau-Verlag mikrotext herausbringt. Die mikrotext-Bücher sind klein und kompakt. Bequem passen sie auf eine ausgestreckte Hand und damit in die größeren Jacken- und Manteltaschen. Das Büro von mikrotext liegt im 3. Stock des Gebäudes und geht von einem weiten Flur ab, in dem ein Rennrad steht und Plakate hängen. Im Büro selbst herrscht eine entspannte Arbeitsatmosphäre. Ein Redakteur, mit dem sich die Verlegerin das Zimmer teilt, sitzt in eine Decke eingewickelt am Schreibtisch und tippt in seinen Laptop. Es sieht aus wie in einer WG-Küche. Tee und Kaffee stehen im Regal neben einem Wasserkocher. Es herrscht konzentrierte Fülle auf dem Schreibtisch.

Das Selbstwertgefühl sei wichtig beim Verlegen, erklärt Nikola Richter später auf einem Spaziergang am nahe gelegenen Kanal. Man müsse überzeugt davon sein, dass man zeitlose, gute Titel im Programm habe. Bücher, die es sich lohnt zu lesen. Wie beispielsweise “Die ganze Geschichte” von Abou Saeed, der als Facebook-Literat, syrischen und deutschen Alltag beschreibt und heute in Berlin lebt. Oder Rasha Abbas Kurzgeschichten “Eine Zusammenfassung von allem was war”. Im Februar hatte Sebastian Nübling die Kurzgeschichtensammlung, in der es um die Suche nach Identität und Halt geht, am Gorki Theater inszeniert. 

„Das Selbstwertgefühl ist wichtig beim Verlegen.“

Nikola Richter von mikrotext

Verleger*innen tragen eine große Verantwortung. Was wählen sie aus, was landet irgendwann auf dem (digitalen) Verkaufstisch und was verschwindet in den Schubladen? Welches Buch schafft es vielleicht bis auf die Bühne oder ins Fernsehen? Intuitiv treffe sie die Entscheidungen und das Programm erschließe sich dann im Prinzip rückwirkend, erklärt die Verlegerin von mikrotext. Nikola Richter denkt und spricht schnell. Sie läuft zügig, beobachtet genau, was um sie herum vorgeht. Ideen sprudeln aus ihr heraus, als gäbe es da irgendwo eine unversiegbare Quelle. Ihre verlegten Texte verbinden neue Narrative sowohl inhaltlich als auch ästhetisch. Viele der Arbeiten sind oftmals im Internet entstanden. Was diese Textform häufig von “klassischen” Texten unterscheidet, ist die sogenannte “Ansprachesituation”. Soll heißen, dass die Texte bereits in Dialogen gedacht und auch so geschrieben wurden. So lag der Anfang von mikrotext 2013 auch bei digitalen Originalen. Das öffnete völlig unbekannten Autor*innen die Tür auf den Buchmarkt. Im Internet fallen häufig die klassischen “Gatekeeper” weg. Jede*r kann veröffentlichen, ohne durch Redaktion, Lektorat zu wandern oder von Agenturen vermittelt zu werden. Das hat Vor- und Nachteile, aber unbekannte Autor*innen werden so zumindest nicht sofort aussortiert.

Bei mikrotext pflegt die 46jährige Verlegerin gleichzeitig Kontakte, schaut sich auf dem aktuelle Autor*innenmarkt um, wählt aus und erledigt vom Vertrieb zur Pressearbeit alles selbst. Große Verlage arbeiten häufig mit vielen verschiedenen Abteilungen und mit Agenturen, die neue Autor*innen vorschlagen. Aber die Auswahl ist groß und der Konkurrenzdruck in Zeiten von Papiermangel und Inflation noch härter. Immer schwieriger sei es für Autor*innen abseits des Mainstreams und der bekannten Bestseller-Listen einen Verlag für sich zu finden, heißt es auch in Verlagskreisen hinter vorgehaltener Hand. Wirklich Neues trauen sich aktuell die wenigsten Häuser. Das momentan weltweit größte Verlagshaus ist Penguin Random House und inzwischen für ein Viertel aller Buchpublikationen verantwortlich. Seit der Fusion und Übernahme von Marktanteilen der Verlags- und Mediengruppe Pearson im Jahr 2020 gehört Penguin Random nun mehrheitlich dem deutschen Medienkonzern Bertelsmann. Über 300 Einzelverlage tummeln sich nun weltweit unter dem Dach von Penguin Random House. Das sind völlig andere Größen als bei unabhängigen (Klein-) Verlagen. Es kommt also nicht nur darauf an, was verlegt wird, sondern auch, wer was verlegt. Große Häuser haben mehr Reichweite und agieren international.

Die Arbeit eines Verlags versteht Nikola Richter politisch, denn die Auswahl der Bücher ist eine öffentliche Handlung, die sie angreifbar macht. Und zugleich sei es “Care-Arbeit für den Buchmarkt, um bestimmte Dinge, die nicht sichtbar sind, sichtbar zu machen.” Dabei verselbständige sich ein Verlag auch. Denn die Autor*innen und ihre Werke machten mit ihren Stimmen den Verlag aus, würden ihn als Ganzes ergeben.

Auch Yasemin Altınay hat 2019 mit ihrem Verlag Literarische Diverse politisch gedacht, als sie einen Raum für marginalisierte Stimmen schaffen wollte, die sonst in der breiten Masse des Literaturbetriebs eher untergehen. Im letzten Jahr kam zudem ein erster Lyrikband von Ọlaide Frank heraus, in dem es um die Realitätserfahrungen einer Schwarzen Frau geht. Altınay war 2021 eine der Titelträger*innen der Auszeichnung Kultur- und Kreativpilot*innen. Die Bundesregierung vergibt sie jährlich an Unternehmen der Kultur- und Kreativwirtschaft, um junges und vielseitiges Unternehmertum zu unterstützen. Trotz dieser Unterstützung aber stößt die Verlegerin immer wieder an strukturelle Grenzen, wie sie selbst sagt. Verlagsauslieferer melden sich nicht immer zurück und allein ist der Vertrieb fast nicht zu stemmen. Die Frau, die nichts Geringeres will als die Branche zu revolutionieren, die Verlegen als Selbstermächtigung versteht, muss sich zwischendurch zurückziehen und Kräfte sammeln. Der Kampf gegen das etablierte System ist zehrend. Ihre 1-Zimmer-Wohnung im Osten von Berlin soll ein Rückzugsort sein und war aber in den ersten zwei Jahren seit Verlagsgründung vor allem Redaktionsbüro und Lager gleichzeitig. Die Magazine stapelten sich im schmalen Buchregal neben dem Sofa und Bestellungen packte Yasemin Altınay persönlich ein. Im Frühjahr 2022 ging das nicht mehr. Sie hat Lager und Versand an ein Familienunternehmen abgegeben. Im Sommer redigierte sie die fünfte Ausgabe des Magazins zum Thema “Traum”, dass am 22. August erschienen ist, in einem kleinen Büro. Das hatte sie zusätzlich angemietet, damit die 1-Zimmer-Wohnung wurde wieder zum Rückzugsort werden konnte.

Die Magazine von Literarische Diverse liegen unter anderem im Neuköllner Kultbuchladen Shesaidaus. Hier finden Leser*innen fast alles zu den Themen Gender, Feminismus, Ani-Rassismus und  Anti-Seximus aus der Sicht von Frauen und queeren Autor*innen. Öffnet man die Tür vom wuseligen Kottbusser Damm kommend, tritt man in einen klaren, freundlichen Raum, der gut überschaubar ist. Mit etwas Glück riecht es nach frisch gebackenen Zimtschnecken, die es im hinteren Teil des Ladens zu kaufen gibt, dazu Kaffee oder Tee. Manchmal trifft man auch auf Autor*innen, deren Bücher hier verkauft werden. Man kann dann seine Zimtschnecke neben Carolin Emcke verputzen oder trifft auf Linus Giese, der bis vor kurzem Mitarbeiter von Shesaid war. Es ist vor allem ein relativ junges Publikum, das hier seit Dezember 2020 stöbert. Auch Yasemin Altınay ist darunter, die mit der Besitzerin Emilia von Senger ein paar Worte wechselt. Die beiden kennen sich von früheren Lesungen, deshalb war die Literarische Diverse von Anfang an auf dem Verkaufstisch dabei. Doch nicht nur der Buchladen ist klein. Auch die Auflagen der Literarischen Diverse sind es. Wen also können die Idealist*innen der Buchszene erreichen und was können sie wirklich verändern?

„Es ist auch mein One-Woman-Vorteil, dass ich keinen großen Verlag an der Backe habe. (…) Ich bin flexibler.“

Yasemin Altınay von Literarische Diverse

Emilia von Senger wünscht sich paritätische Verlagsprogramme, wie sie dem ZDF in einem Interview erklärte und dass trans Menschen und Menschen mit Migrationserfahrung ebenfalls in den Verlagen sitzen. Ihren Buchladen sieht sie als eine “Gleichstellung in minimaler Art und Weise von einer extremen Ungerechtigkeit, die in unserer Gesellschaft jeden Tag passiert.” Auch für Yasemin Altınay ist der Verlag Literarische Diverse ein Herzensprojekt, um Autor*innen und Sichtbarkeit zu gewinnen. “Ich bin nicht an das Projekt gegangen mit dem Ziel super bekannt zu werden und daraus Gewinn zu schöpfen,” erklärt sie im Gespräch. Sie überlegt, lässt sich Zeit bei den Antworten und setzt dann nach: “Und es ist auch mein One-Woman-Vorteil, dass ich keinen großen Verlag an der Backe habe und ich meine Ideen erst Mal mit 20 Abteilungen absprechen müsste. Ich bin flexibler und kann spontan entscheiden.” Wenn es also aktuelle Entwicklungen gibt, kann sie direkt darauf reagieren und das Thema der nächsten Magazin-Ausgabe entsprechend anpassen. So kam es zu dem Thema der dritten Ausgabe von Literarische Diverse mit dem Titel “Widerstand”, weil im August 2020 einige Rechtsextreme und Querdenker versuchten den Reichstag zu stürmen. Die Auflage mit 1500 Exemplaren ist bis heute ausverkauft.

2021 wurden knapp 64 000 Bücher in Deutschland verlegt, etwas weniger als im Jahr zuvor. Seit Mai diesen Jahres sinken die Absatzzahlen wegen des Angriffskrieges von Russland auf die Ukraine und den damit verbundenen Lieferengpässen bei Holz, also auch Papier und der steigenden Inflation. Aber die Verkaufszahlen des Internetbuchhandels wachsen seit der Pandemie stetig an. Mehr und mehr Menschen kaufen digital. Für kleine, unabhängige Verlage ist der Verkauf über Online-Shops auf Webseiten und den Sozialen Medien sowie die großen und kleinen Buchmessen besonders wichtig. “Mein Projekt wäre ohne Social Media wahrscheinlich nicht möglich oder es hätte viel länger gedauert mich zu etablieren. Auch finanziell wäre es viel aufwendiger,” ist sich Yasemin Altınay sicher. Am Anfang ist sie noch alleine durch die Stadt gezogen und hat Poster geklebt. Das aber hat sie schnell wieder verworfen. Zu groß war der Aufwand. Auch der Buchladen Shesaid setzte von Anfang an auf die sozialen Medien und hatte schon vor der Eröffnung im Dezember 2020 auf Instagram 20 000 Follower*innen. Nikola Richter ist von jeher in den Sozialen Medien umtriebig und nutzt jede Gelegenheit, um ihren kleinen Verlag vorzustellen. Anfang Juli fand am Wannsee im Literarischen Colloquium eine Freiluftmesse mit 40 Verlagen und vielen Lesungen bei semi-sommerlichen Temperaturen mit Blick auf den Wannsee statt. Es braucht nicht immer die ganz großen Buchmessen, auch lokale Veranstaltungen sind attraktiv,  so scheint es.

Wie wichtig die großen Messen dennoch für Verlage und Autor*innen sind, zeigt die Aufregung immer darüber, wenn die Buchmesse (wieder einmal) abgesagt wird. Denn sie ist der Ort der Vernetzung und der Werbung. Durch ihre Größe und Reichweite hat sie die Macht der Sichtbarkeit. Dadurch tragen die Organisator*innen ein gewisses Maß an Verantwortung. Messen werden häufig von Stadt und Land gefördert. Durch die Pandemie verursachten Ausfälle wurden beispielsweise mithilfe eines Absicherungsprogramms von Bund und Ländern, also von Steuergeldern finanziell aufgefangen. Im Corona-Jahr 2021 gab es deshalb 4 Millionen Euro aus dem Konjunkturprogramm Neustart Kultur. Anfang Februar gab die Leipziger Buchmesse bekannt, dass sie “schweren Herzens” die diesjährige Messe wieder absagen müsse. Grund waren nach eigenen Angaben die vielen vorausgegangenen Stornierungen diverser Aussteller*innen, da es durch die Omikron-Variante des Coronavirus personelle Engpässe gebe. Die Pressesprecherin der Buchmesse Leipzig machte am Telefon etwas angespannt aber bemüht freundlich klar, dass es durch alle Bereiche hindurch Absagen gegeben habe, nicht nur große sondern auch kleine Verlage hätten Abstand von einer Teilnahme genommen. Auffällig war dennoch, dass nach der Stornierung der Holtzbrinck-Gruppe (wozu u.a. die Verlage Rowohlt, Kiwi, S.Fischer gehören) die Messe einen Tag später abgesagt wurde. Nikola Richter erklärt im Deutschlandfunk Kultur dazu, dass kleine Verlage und ihre Autor*innen bei diesen Großkonzepten häufig nicht mitgedacht würden. Sie vermisse kreative Lösungen, den Versuch, sich an die gegebene Situation anzupassen. Kurzerhand organisierte sie einen digitalen Buchmesse-Empfang, den sie über ihren mikrotext-Instagramkanal bewarb. 

Nicht nur die Verlegerin von mikrotext versuchte den Umständen entsprechend zu reagieren. Auch andere kleinere und größere unabhängige Verlage gaben nicht auf und schufen auf dem Werk 2- Gelände in Leipzig Ende März eine alternative Pop up-Messe. Das einstige Industriegelände, das heute zwischen alten Backsteinmauern und auf Kopfsteinpflaster ein Ort für Konzerte und Ausstellungen ist, war der perfekte Platz für ein Treffen aller Buchliebhaber*innen jenseits der typischen Großveranstaltungen. Bunt ging es zu in der umgebauten Halle mit Loft-Flair und die Idealist*innen der Szene zeigten auch hier, dass es Interesse und Ideen für alternative Formen der Bücher und Buchvermarktung gibt. 10 000 Besucher seien da gewesen, erzählen Leif Greinus und Gunnar Cynybulk, die es geschafft hatten, innerhalb kürzester Zeit mit viel Hilfe und Unterstützung das Event auf die Beine zu stellen. Auch das ist ein Akt der Selbstermächtigung zwischen Künstler*innenateliers und Ausstellungshallen. Dass sich Verleger*innen und Autor*innen auch sehr spontan allein organisieren könnten, hat die Szene im Frühjahr zumindest unter Beweis gestellt.

Am Ende sind die Leser*innen ausschlaggebend. Es gilt, deren Lebenswelt abzubilden und neue Debatten anzustimmen und Gedankengebäude zu ermöglichen. Deshalb muss es um die Bücher gehen, wie Nikola Richter sagt. Die kleinen Buchhandlungen fernab der großen Buchhandelsketten leben von und mit den Vorschlägen und Nachfragen der Kundschaft. Häufig gibt es persönliche Beziehungen zwischen Händler*in, Käufer*in und Autor*in. Außerdem stehen die privaten Buchhandlungen oft in engem Kontakt mit den Verlagen und können sich durch die Zusammenarbeit mit Kleinverlagen individuell ausrichten. Der Geist in diesen Buchläden ist persönlich und setzt bewusst inhaltliche Akzente. Der Unterschied zu großen Ketten, die sich meistens in Einkaufsstraßen oder -zentren befinden und sich über zwei, manchmal drei Etagen erstrecken, ist offensichtlich. Wo Ketten auf große Auswahl klassischer Genres wie Krimi, populäre Sachliteratur und Reisebücher setzen, dazu noch die Bestsellerliste des Spiegels abarbeiten, gibt es weniger Fokus auf Nischenthemen und damit kaum Platz für vielfältigere Stimmen. Als Multiplikatoren sind die privaten Buchläden also für kleinere, unabhängige Verlage nicht weg zu denken, garantieren sie doch etwas Vielfalt auf einem von wenigen großen Verlagshäusern bestimmten Markt.

(Eine gekürzte Version der Reportage ist Anfang Oktober im nd erschienen. Darin gab es Fehler, die hier korrigiert wurden. Der Text wurde im Rahmen der Freien Journalistenschule als Abschlussarbeit geschrieben.)

Kim de l’Horizon „Blutbuch“

Am 17. Oktober wurde der Deutsche Buchpreis an Kim de l’Horizon und das Debüt „Blutbuch“ verliehen. Es ist ein inhaltlich starkes und thematisch wichtiges Buch, in dem es um die Suche von Identität und Sprache geht. Und die Sprache, die der*die Autor*in wählt ist das Beste, was es dieser Tage zu lesen gibt. Die folgende Rezension wurde zuerst auf soundsandbooks veröffentlicht.//

Kim de l’Horizon auf der Suche nach dem Ich

Es ist anmaßend eine Rezension zu Kim de l’Horizons “Blutbuch” schreiben zu wollen, weil es nicht möglich ist den Text in ein paar Zeilen zusammenfassen. Es braucht Zeit, um in diese Texte einzutauchen, sie zu durchdringen – denn das Blutbuch sind mehrere Texte. Eine hilfreiche Metapher um zu beschreiben, was das „Blutbuch“ ist, könnte das von Kim de l’Horizon selbst häufig genutzte Wasser sein. Die Texte des Blutbuches sind wie Wasser in allen möglichen Aggregatzuständen und Formen. Der Text ist ein Eisblock, wenn es um die Kälte der Mütter geht, die sich in das Kind hinein frisst und selbst beim Kind dann unter einer Falltür versteckt weiter existiert, ja sogar zum Überlebensmotor wird. 

Dann wieder wird der Text zum anschmiegsamen warmen, aber auch tiefen, dunklen See, der Sexpartner aufnimmt, umschmeichelt und verschluckt. Später ist er ein reißender Wasserfall, wenn sich der*die Protagonist*in in die vielen, vielen Biografien der Ahninnen begibt, sich auf der Suche nach dem eigenen Ich durch die Geschichten der Mütter wühlt. 

Das Blutbuch durchbricht jede traditionelle Erzählform

Aber schon darin liegt der Fehler. Es gibt nicht dieses eine, fest umrissene Ich. Kim de l’Horizon führt uns Lesende durch viele Ich-Varianten. Das gelingt nicht nur inhaltlich, untergliedert in fünf Teile, sondern – und darin liegt der absolute Genuss dieses Buches – es gelingt vor allem mithilfe der Sprache. Die Sprache de l’Horizons ist amorph wie ein Lebewesen und passt sich diesen verschiedenen inhaltlichen Teilen an. Dabei brechen die Textformen alles Traditionelle auf. Die Lesenden bleiben schnaufend und überrumpelt und völlig beglückt zurück. Das also kann Sprache? 

Die absolute Lust am Sprachspiel ist im ersten Teil wie eine raffinierte, vielschichtige Cremetorte, die man mit bloßen Fingern essen will. Obwohl man alle Nuancen noch ein bisschen länger auf der Zunge zergehen lassen könnte, schaufelt man den Text weiter in sich hinein. Und dann muss man irgendwann inne halten und atmen. In diesem ersten Teil zeigt Kim de l’Horizon eine Sprachmacht, die dann mitunter so aussieht: “Das Kind ließ Grossmeer nie allein in ihrer Hungereinsamkeit. (…) Was das Kind umgab, war nie außerhalb von ihm, es hatte keine Haut; die Welt ging in ihm aus und ein.”

Wie Körper Traumata erinnern

Die Verlorenheit dieses Kindes, die übergeht in die erwachsene Figur, ist zentraler Punkt und schmerzhaft, manchmal unerträglich zu lesen. Beschrieben werden in sich und ihrer eigenen Geschichte gefangene Erwachsene, die das Kind im Prinzip nur für ihre eigenen Bedürfnisse und Bedürftigkeit nutzen. Ein Kind, das eigentlich nicht hätte sein sollen und für das sich die Mutter dennoch entschied. Dieses Kind hat auf gewisse Weise seinen Körper verloren und mit ihm verlor es auch die Geschichten und Erinnerungen. Denn im Körper sitzt das Wissen, sitzen die Traumata einer ganzen Ahnenreihe von Frauen, die es durch Südeuropa, diverse Kriege und das Elend der Hexenverbrennungen zog. 

Der Körper vergisst das nicht. Aber er kann verschütt gehen unter dem Schmerz und dem Missbrauch, er kann verloren gehen unter den gesellschaftlichen Erwartungen, dem er sich entziehen will, ja entziehen muss, um sein zu können. Die Frauen der Familie nutzen diesen Kinderkörper als Versicherung ihrer selbst und so heißt es am Ende über die Großmutter, die das Enkel permanent berührt und streichelt: “You were subconsciously trying to soothe yourself. How arrogant of me to hate your caressing. It was not meant for me.” Und über die Mutter, die sich mitunter ohne Vorwarnung in eine eiskalte und unnahbare Frau verwandeln konnte: “Sie hat mich gemacht, damit jemensch sie bedingungslos liebt. Und wenn sie stirbt, dann sterbe ich auch. Ich musste Meer am Leben erhalten mit meinem winzigen Leben.” 

Im Blutbuch verhandelt Kim de l’Horizon die großen Themen

Neben der Suche nach dem unter allen Müttern und Ahninnen verschütteten Ich geht es auch um die Liebe. Es geht um die Liebe zu sich selbst mit einem Körper, der so durchlässig wie Wasser ist und alle und alles in sich aufnimmt. Das erwachsen gewordene Kind sucht Versicherung, das Gefühl für sich selbst erfährt es kurzzeitig beim Sex mit zufälligen Partnern. Der*die Protagonist*in zieht sich zurück, erfährt Gewalt und Erniedrigung und schreibt das Blutbuch, nachdem er*sie den Stammbaum, und die Mutterblutbuche gefunden hat. Im letzten Teil wechselt der Text in die Briefform und nutzt dafür das Englische, jene Sprache, die die Mütter nicht verstehen. 

Jetzt kann der*die Autor*in freier und offener schreiben, auch wenn es im Englischen den Witz aus dem vorangegangenen Teil ein bisschen vermissen lässt. In diesem mittleren Teil des Buches nutzt Kim de l’Horizon Sprache so befreiend, dass es eine Freude ist und man manchmal laut lachen muss beim Lesen. Selbst den wissenschaftlichen Fußnoten wird noch aufs Spielerischste der Weisheitszahn gezogen. Dieses Aneignen von Sprache, um zu sich zu kommen, Welt zu durchdringend und ein bisschen zu verstehen, woher mensch kommt und was sie*ihn gemacht hat, allein dafür hätte das “Blutbuch” den Deutschen Buchpreis verdient.

Kim de l’Horizon: „Blutbuch“, Dumont, Hardcover 334 Seiten, 978-3-8321-8208-3, 24 Euro

Preisverleihung des Deutschen Buchpreises am 17.Oktober 2022

1000Zeichen

Der Instagram-Kanal 1000Zeichen ist eine kleine und sehr feine Institution in der Social Media-Bubble. Auf genau definiertem Raum kommen alle großen, kleinen, lauten, leisen, ernsten, witzigen, absurden und hyperrealistischen Kürzestgeschichten zusammen. In den letzten 12 Monaten durfte ich drei Kurzgeschichten beisteuern und gehe damit in die Jahreszeit, die wie keine andere gemacht ist für das geschriebene Wort: Hallo Herbst! //

16. Dezember 2021 „Wenn du den Satz der Sätze ausgesprochen hast, wird’s ernst. Oder still. @ninasuessmilch hat 1000 eindringliche Zeichen über das Sterben danach geschrieben“

31. März 2022@ninasuessmilch über einen Zwiespalt, der uns in diesen Tagen alle irgendwie beschäftigt.“

13. September „Heute berichtet @ninasuessmilch von einer Begegnung am Fluss, die zu Herzen geht.“

Nicht-Mutterschaft, oder Warum ich kein Kind haben werde

Das Essay wurde zuerst in dem Online-Magazin „Zarte Horizontale“ zu dem Themenkomplex „Hinter den Kulissen“ veröffentlicht. Das Magazin ist ein Ort für Zwischenräume, an dem sich Gedanken und Formen frei entfalten können. //

Es ist nicht so, dass ich kein Kind haben will. Es ist nur so, dass ich keins haben werde.

Als ich “Motherhood” von Sheila Heti las, war ich genervt. Ich war genervt von der Protagonistin und ihrer Unschlüssigkeit, ihrem jahrelangen Zaudern. Bei mir war das alles ganz anders, denn ich glaubte zu wissen, was ich wollte: Ich hätte gerne ein Kind gehabt, konnte aber nicht. Ich hatte also nichts mit “Motherhood” zu tun, wo die Protagonistin scheinbar kein Kind wollte, aber dennoch unsicher in ihrer Entscheidung wirkte. Als Endometriose-Patientin war es mir in den letzten fünf Jahren nicht gelungen, schwanger zu werden. Richtig, ich schreibe “gelungen”. Denn ganz gleich, wie oft ich mir sagte, ich könne nichts dafür, blieb immer dieses Gefühl des Versagens. Es legte sich wabernd, neblig um mich und flüsterte: Dir gelingt es nicht. Du schaffst es nicht. Dein Körper ist kaputt. Der kann das nicht.

Ich hatte die leistungsorientierten Maßstäbe unseres Gesellschafts- und Wirtschaftssystem gut verinnerlicht, in mein Körperverständnis übernommen. Die Schuld lag bei mir als Frau. Nach drei Operationen und allen möglichen Tests hatten wir es sogar Schwarz auf Weiß. Das Ergebnis betrachtete ich mit einem Potpourri an Gefühlen, darunter schwang eine gehörige Portion Selbstmitleid mit. Und dann lehnte ich mich zurück. Ich hatte es ja nun schriftlich, ich konnte kein Kind bekommen. 

„Und eine künstliche Befruchtung? Oder Adoption? Ein Pflegekind?“, fragten Menschen, die mich lieben und mir helfen wollten. Tatkräftig brainstormten sie und bemerkten nicht (ich habe es ja selbst kaum erkannt), wie ich mich innerlich aufbäumte. „Eine Adoption ist nicht drin, dafür sind wir zu arm und fast schon zu alt“, murmelte ich ausweichend. Ein Pflegekind könnte ich nie wieder weggeben, wenn ich es einmal aufgenommen hätte. Außerdem wer will permanent das Jugendamt um Erlaubnis bitten, wenn es um Entscheidungen für das Kind geht? Es blieb also die künstliche Befruchtung – kostspielig, klinisch und so alles andere als romantisch. Doch auch daran war nichts Schlimmes. Ich kannte mehrere Freundinnen, die den gleichen Weg gingen, manche zögerlich, andere selbstsicher, aber sie gingen ihn.

Im letzten Winter fuhren wir dann in den Norden, nach Dänemark und heirateten an einem verregneten Dezembertag in einem uralten strahlend gelben Rathaus, obwohl wir das Konstrukt Ehe als ungerecht und überholt empfanden. Aber ich war müde und die Zeit lief uns davon. Verheiratet könnten wir einen Termin für eine künstliche Befruchtung ausmachen.

Die gesetzlichen Krankenkassen zahlen eine künstliche Befruchtung anteilig zu mindestens 50%, teilweise auch mehr. Manche übernehmen sogar die vollen Kosten für bis zu drei Versuchen der In-Vitro-Fertilisation. Meine Betriebskrankenkasse würde 50% von insgesamt zwei Versuchen zahlen. “Vorher müssen Sie aber unbedingt vor den Altar,” drängte die Sachbearbeiterin am Telefon. Und beeilen müsse ich mich. Denn ich würde ab dem Frühjahr zu alt sein. Der Staat unterstützt bei einem Kinderwunsch fast ausschließlich verheiratete, cis heterosexuelle Paare, wenn die Frau unter 40 und der Mann unter 50 Jahre alt ist. Nur sehr wenige Bundesländer fördern inzwischen auch queere Paare. Am weitesten geht dabei Bremen, das diverse und Trans Paare unterstützt, die unverheiratet sind und bei dem zumindest ein:e Partner:in weibliche Geschlechtsorgane hat. Berlin hilft inzwischen lesbischen Paaren finanziell bei der künstlichen Befruchtung. Doch das bleiben Ausnahmen. Das Gesetz “Zur Herbeiführung einer Schwangerschaft”, dass sich auf verheiratete, und heterosexuelle Paare bezieht ist dennoch nicht diskriminierend, wie das Bundessozialgericht erst im November 2021 erneut entschieden hat. Willkommen im 21. Jahrhundert.

Menschen, die also über weniger Geld verfügen und ein Kind haben möchten, werden tendenziell in eine Ehe gezwungen. Wenn sie nicht dem klassischen heteronormativen Bild entsprechen, haben sie fast keine Chance auf finanzielle Hilfe. Untermauert wird das ungerechte Konstrukt noch durch das ‘Ehegattensplitting’, bei dem verheiratete Paare, ob mit oder ohne Kind, bei unterschiedlich hohem Verdienst kräftig Steuern sparen können. Das traditionelle Rollenbild ist so rechtlich zementiert und wird durch ökonomische Realitäten wie Genderpaygaps und patriarchale Karrieremodelle noch untermauert.

Wann immer ich an diese Art Familienkonstrukt denke, wird es sehr eng um meinen Hals. Das alles hat irgendwie nichts mit mir, nichts mit uns zu tun. Oder zumindest wollte ich nicht, dass es etwas mit uns zu tun hat. Irgendwann wurden meine Zweifel dann sehr laut. Ich durfte mich hier nicht durchmogeln. Ich musste ehrlich zu mir sein. Wollte ich wirklich um jeden Preis ein Kind? Denn wenn ich wirklich eins wollte, dann würde ich doch alle Möglichkeiten ausschöpfen und eben keine Zweifel haben, oder? Wir würden uns gemeinsam um das Kleine kümmern, könnten unsere Jobs irgendwie so aufteilen, dass wir nicht das klassische Mama-Papa-Kind-Modell leben würden. 

Beruf und Kind, beides kann man schon irgendwie vereinen, wird uns sehr oft vermittelt. Mehr noch: Das Schreiben und ein Kind und ein Brotberuf dann sicher irgendwie auch. Das machen doch so viele. Ich frage mich dabei aber immer häufiger zu welchem Preis. Es gibt in meinem Umfeld nur sehr, sehr wenige Paare, denen die Gleichstellung von Familie und Beruf wirklich gelingt. In den meisten Konstellationen leistet die Frau deutlich mehr Care-Arbeit, also Sorgearbeit in jeder Hinsicht, während er Karriere macht oder zumindest Vollzeit arbeiten geht. Die Covid-19 Pandemie hat diese Kluft wieder sehr deutlich werden lassen, wo vor allem die Frauen zu Hause das Home-Schooling der Kinder betreuten, den Haushalt irgendwie schmissen und zwischendurch ihren Brotjob im Homeoffice erledigten. 

Wenn man nun neben der Brotarbeit noch irgendeiner anderen kreativen Profession nachgeht, dann wird die Aufteilung wirklich schwierig. Mein Partner und ich sind beide freischaffend. Er ist Musiker, ich schreibe und es gelang in den letzten Jahren gut, uns gemeinsam um unseren alternden, irgendwann sehr kranken Hund zu kümmern. Doch wir haben beide wenig geschlafen, deutlich weniger geschrieben und komponiert. Und wenn ich am Schreibtisch saß, dann immer mit einem schlechten Gewissen. In den letzten Wochen lag ich häufiger neben dem Hundekorb, als ich vor dem Computer saß.

Ich brauchte viele Jahre, um mich überhaupt als Autorin zu verstehen und noch länger, um den Mut aufzubringen, mich als solche zu bezeichnen. Irgendwann habe ich ein Aufbaustudium an der Freien Journalistenschule gemacht, um das Handwerk zu lernen. Alles natürlich neben der Brotarbeit. Dann konnte ich erste Artikel veröffentlichen, die mehr schlecht als recht bezahlt werden. Ich schreibe mittlerweile neben bezahlten Artikeln vor allem Kurzgeschichten und Essays, die größtenteils auf Online-Portalen veröffentlicht werden und ein Tauschgeschäft sind: Du schreibst und wir veröffentlichen, um deine Stimme hörbar zu machen. Das ist ein Anfang, aber nichts, womit ich meine Miete bezahlen könnte. Nur sehr wenige können überhaupt vom freien Schreiben allein leben, sei es als Autor*in oder Journalist*in. Für die Meisten gibt es einen Zweitjob, der manchmal fast ein Vollzeitjob ist. Gelingt es dennoch mit dem Schreiben Geld zu verdienen und zum Beispiel einen entsprechend großen Verlag zu finden, der Texte veröffentlichen will und auch adäquat honorieren kann – fast ein Ding der Unmöglichkeit im hierarchisch aufgebauten und starren Literaturbetrieb – besteht die Arbeit nicht nur aus sorgfältiger Recherche und dem Schreiben. Lesungen und öffentliche Auftritte gehören zu einer Veröffentlichung und sind Teil des Honorars. Wie soll das alles mit einem Kind funktionieren? Ich weiß, es gibt Menschen mit Kindern, denen es gelingt sich im Literaturbetrieb zu etablieren und vor ihnen habe ich den höchsten Respekt. Aber der Gedanke, dass das Schreiben mit einem Kind – nachdem ich so lange gebraucht hatte, es mir zu erarbeiten – wieder wegfallen oder zumindest deutlich weniger werden würde, ist omnipräsent. Und das panische Gefühl, das dabei in mir aufkommt, hat mich lange beschämt.

Obwohl mein Partner und ich die Hochzeit als notwendiges Übel sahen, etwas von staatlicher Seite besiegeln zu lassen, was für uns längst gelebte Wirklichkeit war, geschah etwas Überraschendes nach der Trauung. Ich sah uns jetzt als dieses Paar, das schreibt und komponiert, Musik macht und kreativ arbeitet. Und ich sah kein Kind mehr. Nach vielen Jahren des Grübelns und Planens, der Tests und des Wartens konnte ich es mir eingestehen und es war eine Erleichterung. Ich begann allmählich zu verstehen, dass das, was ich vom Muttersein erwartete, nicht unbedingt mit einem eigenen Kind einher gehen musste.

Alle Geduld, Liebe und Fürsorge darf auch in einen Text fließen – oder zumindest fast alles davon. Ich muss mich nicht schlecht fühlen, weil ich am Schreibtisch sitzen will.  Nur ich konnte diese Entscheidung treffen und das Gefühl der Selbstermächtigung und der Freiheit, das damit einher geht, ist ein großes Glück und vor allem ein großer Luxus. 

Es funktioniert übrigens beides gleichzeitig; die Trauer um ein Kind, das ich nicht haben werde und die Erleichterung darüber, dass ich das Schreiben an erste Stelle setzen kann. Meistens kann ich die Ambivalenz gut aushalten. Nur manchmal noch tappe ich in die Falle der patriarchalen Leistungsgesellschaft und ich fühle mich schlecht, dass der Wunsch nach einem Kind offensichtlich nicht groß genug war. Oder zumindest nicht größer als der Wunsch nach dem Schreiben. Jetzt aber kann ich mich selbst in einen Text bringen. I will write my self, wie Hélène Cixous vor 46 Jahren in “Das Lachen der Medusa” forderte. And surely I will.


Quellen:

The Laugh of the Medusa von Helene Cixous, Keith Cohen und Paula Cohen, 1976 by University of Chicago Press

Taz- Artikel: Babys für alle vom 21.11.21 (https://taz.de/Hilfe-bei-Kinderwunsch-fuer-queere-Paare/!5814327/)

Motherhood. Sheila Heti. Penguin Random House. London 2019

Innenschau nach draußen

Der Ort, an dem wir leben, beeinflusst unser Denken und Fühlen, bestimmt die Perspektive, die wir einnehmen. Für ein Online-Magazin mit dem Schwerpunkt „Housing“ verfolgt das Essay die Frage, wie der Blick aus dem Fenster unser Sein bestimmt und in welcher Form die Malerei und Bildende Kunst sich seit der Renaissance diesem Thema annehmen. //

Ich erinnere mich noch gut an die Bilder im Wohnzimmer meiner Großeltern. Dunkel waren die Kopien aus der Romantik, unmodern und sehr weit weg von meiner Kinderrealität. Die Bilder interessierten mich nicht. Mein Blick ging immer zum Fenster hinaus ins Dorf. Dorthin, wo ich ungestört bis zum Abendessen herumstreunen durfte.

Und bis heute liebe ich es, aus dem Fenster zu schauen. Wenn ich in einem Zimmer stehe, das ich nicht kenne, gehe ich zuerst ans Fenster. Ich schaue hinaus, will sehen, wie und was da draußen ist. Von diesem Draußen kann ich zwar nur einen kleinen Teil erkennen, einen Ausschnitt und dieser Ausschnitt wiederum wird bestimmt von dem Zimmer, in dem ich stehe. Doch dieser Blick ist essentiell. Denn das Innen beeinflusst das Außen und umgekehrt. Dabei stelle ich mir bis heute die Fragen: Wo genau bin ich und wer bin ich an diesem Ort?

Das Innen beeinflusst das Außen

Das Fenster gibt einen klar umrissenen Rahmen, durch den wir Betrachtende nur einen bestimmten Bildausschnitt der Außenwelt sehen. Die Renaissance feierte das Bild selbst als “Fenster zur Welt”  und nutzte das Fenstermotiv als perspektivische Projektion. In der Epoche, in der Wissenschaft und Kunst zusammen das neue Selbstverständnis des Menschen schafften, galt die Geometrie als Basis für die Malerei. Die Zentralperspektive erzeugte mit dem Fluchtpunkt im Bild Tiefe und Proportionen. Gebäude und Fenster wurden in diesen Bildern als Strukturen gesetzt, an denen entlang Maler*innen arbeiteten. 

 Besonders gut ist das bei Leonardo da Vincis Abendmahl zu sehen. Die Tiefe des Bildes wird durch die Perspektive des Fluchtpunktes geschaffen und durch Wandteppiche rechts und links, der Kassettendecke oben und der Fensterfront am Ende des Speisesaals, also hinter Jesus und seinen Jüngern, verstärkt. Doch die Fenster ermöglichen hier schon den Blick ins Freie und Weite.  Die Betrachtenden schauen in das Bild wie in eine offenbarende Welt und hinter dieser Welt liegt mehr, eine hier noch versteckte Weite, die erst 300 Jahre später thematisiert werden sollte.

Leonardo da Vinci, Das letzte Abendmahl, 1494 – 1498

Türen und Fenster als Ausdruck der Kommunikation

Türen und Fenster sind Ausdruck von Kommunikation zwischen Innen und Außen. Sie sind die Öffnung zwischen der Behausung des zivilisierten Menschen zur Außenwelt, eine Art Schwelle. Diese zu übertreten, konnte man entweder sehnsüchtig erwünschen oder aber auch tunlichst vermeiden. Denn das Draußen und Öffentliche galt immer auch als unberechenbar. Vor allem Frauen sollten im privaten Raum leben und wenig in der Öffentlichkeit auftauchen. Im Haus konnten sie schließlich besser “beschützt” und kontrolliert werden als im öffentlichen Raum.

Von Italien aus kam das Fenstermotiv zweihundert Jahre nach der Renaissance in den Niederlanden wieder auf und wurde dort vor allem in der Genre-Malerei verwendet. Stille Figuren beim Handwerk oder in die Betrachtung versunken am Fenster stehend, sind typisch für das 17. Jahrhundert in den Niederlanden. 

In vielen Bildern von Jan Vermeer beispielsweise, in denen es Frauenfiguren gibt, sieht man am linken Bildrand ein Fenster. Hier nutzt sie der Maler vor allem als Lichtquelle, um die Farben und die Stofflichkeit auf dem Bild hervorzuheben. Der Blick der Frauen aber ist oft zum Fenster gewandt. Die Innenansicht der Gemalten wird fast versteckt thematisiert. Ob bei der “Briefleserin am offenen Fenster” oder “Herr und Dame beim Wein”, das Fenster steht hier im engen Zusammenhang mit dem, was in den Figuren vor sich geht: Zögern die Frauen? Träumen sie? Sind sie sehnsüchtig oder ängstlich? Die Wein trinkende Dame, die in Richtung des halb geöffneten Fensters schaut; ob sie die Verführungstaktik des Herrn versteht, der nicht einmal Mantel und Hut ablegt, während er ihr den Wein nachschenkt? Wird sich das Fenster für sie öffnen oder schließen? Oder das junge Mädchen, das am weit geöffneten Fenster einen Liebesbrief liest und mit ihrem Körper zum Fenster gedreht steht. Das Fenster verbildlicht hier die Außenwelt, die Verführung und das Versprechen.

Jan Vermeer, Breifleserin am offenen Fenster, 1675 – 1695
Jan Vermeer, Herr und Dame beim Wein, 1658 – 1660

Fenster werden in der Malerei auch immer wieder als “Orte stummer Monologe und Dialoge, der Reflexion über die eigene Stellung” beschrieben. Wer bin ich? Wer bin ich hier? Es ist der Blick ins Außen, der die Innenschau erst möglich macht. Bis heute wird der Blick vom Fenster aus nach draußen auch als sehnsüchtig beschrieben. Vielleicht hatte der Romantiker Novalis recht, wenn er behauptete, dass alles in der Distanz zu Poesie würde. 

Verändertes künstlerisches Selbstverständnis

Während im 17. Jahrhundert noch der Fokus auf den Figuren und den alltäglichen Szenen liegt, verwandelt sich der Blick in der Romantik und geht durch das Fenster hinaus in die Weite.  Das Fenster liegt jetzt im Zentrum des Bildes. Zum Teil verschwinden die Figuren komplett und gezeigt wird nur noch das Fenster wie bei Caspar David Friedrichs “Blick aus dem Atelier des Künstlers”. Der Raum geistiger Produktion im Inneren mit Blick nach daußen beschreibt auch ein verändertes künstlerisches Selbstverständnis. Das offene Fenster ist hier wieder Symbol für die Kommunikation zwischen innen und außen. Von der Lichtquelle im 17. Jahrhundert wird es in der Romantik immer stärker zur Schleuse von Blicken, Gefühlen und Gedanken.

Caspar David Friedrich, Blick aus dem Atelier des Künstlers, 1805 – 1806

Im 20. Jahrhundert sehen wir dann bei Marcel Duchamps humorvollen Ready-Made “Fresh Widow” von 1920 ins schwarze Nichts. Es gibt keinen Ausblick und auch keinen Durchblick mehr. Es zeigt die postmoderne Leere, die durch die Fülle sämtlicher Möglichkeiten und Veränderungen in unseren Leben herrscht und es thematisiert auch die damit einhergehende Überforderung. Gibt es zu viel Auswahl, habe ich am Ende keine Wahl. Ich verweigere mich ihr. Der Titel “Fresh Widow” – spielt nicht nur mit Worten (von French Window) sondern auch mit den Erwartungen der Rezipienten. Es verweigert jeglichen Ausblick, Weitblick und auch fast jede Kommunikation. 

Leonardo da Vinci feilte in der Renaissance noch jahrelang an der richtigen Perspektive, den detailgetreuen Gesichtsausdrücken und versuchte, nach mathematischen Prinzipien das Abbild der Welt darzustellen. Fünfhundert Jahre später weigern sich die Künstler*innen des 20. Jahrhunderts nun Realität überhaupt abzubilden.  Verständlich, denn wer will schon das Draußen sehen im 20. Jahrhundert? Es zeigte  eine Welt voller Weltkriege, Zerstörung und Massenvernichtungswaffen.

Auch heute im 21. Jahrhundert sehe ich draußen sterbende Bäume, karge Landschaften und die ersten Anzeichen der Klimakatastrophe. Dieser Blick nach draußen macht aus mir eine ängstliche, besorgte Betrachterin. Dann doch lieber die Schotten dicht halten und sich nach innen wenden?

Doch ohne den Blick nach draußen geht es auch nicht, funktioniert schließlich das Innen nicht. Am Ende des Tages muss ich also wieder am Fenster stehen und hinausschauen, um nicht zu vergessen, wer ich bin und vielleicht auch wer ich sein werde. Falls das aber alles zu viel wird, kann man zwischendurch immer noch Duchamps “Fresh Widow” bewundern.

Marcel Duchamp, Fresh Widow, 1920

Sekundärliteratur:

Lorenz Eitner: The Open Window and Storm Tossed Boat. An Essay On The Iconography Of Romanticism. In: The Art Bulletin, Vol. 37, 1955

Thomas de Padova: Alles wird Zahl. Hanser Verlag. München 2021

J.A. Schmoll gen. Eisenwerth: Fensterbilder – Motivketten in der europäischen Malerei. In: Katalog Einblicke – Ausblicke, Recklinghausen 1976

sehpunkte. de/ das Fenstermotiv in der Malerei, zuletzt abgerufen am 17.5.22

Zeitraumzeit.de/ Rezension Fresh Widow: Fensterbilder seit Matisse und Duchamp, zuletzt abgerufen am 17.5.22

Er kam aus Mariupol

Bis Anfang März waren circa 70 000 Ukrainer*innen in Berlin angekommen und suchten nach einer Unterkunft. In den ersten beiden Wochen hat ein Bündnis aus Freiwilligen am Berliner Hauptbahnhof die Vermittlung organisiert. Mit einem der Freiwilligen konnte ich sprechen. Eine ausführlichere Version des Artikels erschien am 9. März auf Siegessäule. //

Es ist zugig am Berliner Hauptbahnhof an diesem Dienstagmittag. Eine Gruppe von sechs Freiwilligen steht hinter einem großen Tisch, auf dem Listen für Unterkünfte und Informationszettel für Ankommende liegen. Die bunten Queer- und Transgender-Flaggen sind nicht nur auf den Westen der Helfer*innen angebracht. Auch hinter ihrem Stand sind sie deutlich zu sehen. Rechts gibt es einen Treffpunkt, der BPoC-Geflüchteten gilt, ebenfalls deutlich markiert mit Schildern. Unweit davon stehen die einzigen Polizist*innen, die in diesem Bereich des Bahnhofs zu sehen sind.

Patrick trägt eine dicke Winterjacke und Mütze. Über eine Telegram–Gruppe haben sich die Freiwilligen der LGBTIQ+ – Gruppe organisiert. Er ist seit einigen Tagen am Berliner Hauptbahnhof und hilft. In zwei Stunden-Schichten werden die Freiwilligen eingeteilt, viele bleiben länger. Alle tragen als Kennzeichen eine signalgelbe Weste. Orange ist sie, wenn die Person Russisch oder Ukrainisch sprechen kann.

Der Ankunfts- und Freiwilligen-Bereich ist voller Menschen und wirkt dennoch nicht hektisch. Plakate an Säulen zeigen an, wo es Essenstände, Medikamente und Listen für Unterkünfte gibt. Pfeile auf dem Boden machen die Laufrichtung klar, die von allen konsequent ignoriert wird. Es gibt Kleider- und Sachspenden, in einem hinteren Bereich des Bahnhofs, der weiter Richtung Busbahnhof führt. Von dort aus können die Geflüchteten in verschiedene Städte weiter fahren. Es gibt Busse bis nach Paris. Auch an das Wohl von Tieren denkt man und organisieren über die Berliner Tiertafel Futterspenden.

Der erste Zug aus Polen komme nach neun Uhr, erzählt Patrick und dann gehe es über den ganzen Tag verteilt weiter. Manche Geflüchteten kommen alleine, wie der junge Teenager Y. Er hatte es geschafft aus Mariupol, der eingeschlossenen Hafenstadt im Südosten der Ukraine zu fliehen und war nun in Berlin gelandet. Er wollte weiter nach Nürnberg fahren zu einem Freund, den Y. aber nicht mehr erreichen konnte.

„Ich komme ursprünglich aus Nürnberg,“ berichtet Patrick. Er habe dann seine Community über Instagram kontaktierte und um Hilfe gebeten. Innerhalb kürzester Zeit konnte darüber nicht nur eine Unterkunft für Y. organisiert werden sondern auch die Möglichkeit zu arbeiten. Das sei ihm wichtig gewesen. Auch am Berliner Hauptbahnhof versuchte Y. zu helfen, solange er auf seinen Zug nach Nürnberg wartete und brachte den Freiwilligen Essen. Solche Erfahrungen seien unglaublich erfüllend, schildert Patrick. Auch das Miteinander der Helfer*innen sei enorm wichtig. 

Bisher sind so gut wie alle Angebote freiwillig organisiert. Der Berliner Senat beschloss Anfang März bis zu 20.000 Ukrainer bedarfsgerecht zu versorgen und hat zudem die besondere “Dringlichkeit für die Schaffung einer zusätzlichen Erstaufnahmestruktur festgestellt”. Inzwischen gibt es auch ein Versorgungszelt vor dem Hauptbahnhof.

„Die Leute protestieren weiter, obwohl Tausende verhaftet wurden“

Das Interview wurde am 7. März auf Siegessäule veröffentlicht. Was bedeutet der Krieg gegen Die Ukraine und die Sanktionen für die LGBTIQ Community in Russland? Ein Gespräch mit einer*m Aktivist*in. Aus Sicherheitsgründen muss die Person anonym bleiben. //

Wie haben du und deine Freunde den 24. Februar erlebt? Habt ihr den Angriff erwartet?

Um ehrlich zu sein, niemand hat es erwartet. Jede*r in den Menschenrechtsorganisationen war schockiert und konnte es nicht glauben. Für mich ist es auch persönlich schwierig, denn ich habe Familie in der Ukraine. Es ist keine leichte Situation.

Es heißt, dass in Russland niemand offiziell von einem Krieg sprechen darf. Welche Informationen bekommt man?

Ich persönlich schaue keine offiziellen Fernsehsender, aber natürlich höre auch ich die Staatspropaganda. Viele Webseiten sind jetzt zusätzlich gesperrt. Öffentlich wird nicht akzeptiert, dass es ernsthafte Konsequenten für die russische Bevölkerung geben kann. Für uns Menschrechtsaktivist*innen war es vorher schon schwierig.

Was befürchtet ihr für eure Arbeit?

Wir erwarten nichts Gutes. Die Arbeit in Menschrechtsorganisationen ist in Gefahr. Die Billigung von LGBTIQ+ Rechten ist gegen die Staatsdoktrin und verfassungswidrig. Vor kurzem erst wurde Memorial aufgelöst. Wir Aktivisten versuchen natürlich weiter zu machen und so gut wie möglich dort zu helfen, wo es notwendig ist. Denn psychologische und legale Hilfe sind wichtiger denn je. Generell ist es sehr schwer vorherzusehen, was passieren wird.

Es wird also auf jeden Fall schwieriger für die queere Community unter den aktuellen Umständen.

Absolut. In Zeiten wie diesen wird die Arbeit für Menschenrechte immer schwerer. Außerdem haben die russischen Behörden ja schon zuvor keine Anzeichen gemacht, dass sich irgendwas verbessern könnte. Wir erwarten definitiv dass es schlimmer wird.

Gibt es einen Plan B, wie ihr weiter machen könnt?

Aktuell wissen wir noch nicht, wie wir weiter machen können. Wir müssen herausfinden, welche Möglichkeiten wir dann haben. Wir können einfach wenig vorhersehen im Moment. Die Situation ändert sich täglich und wir können im Prinzip nur abwarten und reagieren. Aber natürlich ist mir auch klar, dass die Situation in der Ukraine viel schlimmer ist.

Welche Folgen könnten die Sanktionen gerade für die queere Community haben?

Wir werden auf jeden Fall Schwierigkeiten bei Medikamentenlieferungen bekommen. Aber es wird auch juristisch problematischer. Zuvor haben LGBTIQ-Organisationen finanzielle Unterstützung von Organisationen und Institutionen weltweit erhalten. Sie bekommen natürlich keine staatliche finanzieller Hilfe in Russland. Der Wechselkurs ändert sich rasch und die Preise steigen bereits. Ich glaube, dass die Konsequenzen sehr unterschiedlich und weitreichend sein werden.

Du hast gerade erwähnt, wie wichtig es ist, international vernetzt zu sein. Seid ihr aktuell in Kontakt mit anderen Organisationen und habt ihr Kontakt in die Ukraine?

Wir bekommen natürlich Informationen über ihre schreckliche Lage und es ist einfach unerträglich zu sehen, wie Freunde bombardiert werden (schluckt und holt Luft). Wir versuchen trotzdem zu helfen, aber momentan können wir nicht wirklich viel tun, um zu helfen. 

Wir hören in Deutschland von den Protesten in Russland. Es ist unglaublich beeindruckend, wie viele Menschen auf die Straße gehen, obwohl es so gefährlich ist. Wachsen die Proteste? 

Die Leute gehen weiter protestieren, obwohl bereits Tausende im ganzen Land verhaftet wurden. Zum Teil wurden sie sehr brutal in Gewahrsam genommen. Dennoch gehen die Demonstrationen gehen und in meinem Umfeld versteht niemand, warum dieser Krieg überhaupt stattfindet. Das ist alles unbegreiflich. Und viele Menschen haben zu viel Angst, um öffentlich ihre Meinung zu sagen. 

Interviews mit dem Queerbeauftragten der Bundesregierung Sven Lehmann

Für die aktuellen L-Mag (März/April) und die Printausgabe der Siegessäule (März) habe ich mit Sven Lehmann (Die Grünen) über die Aufgaben seines Amtes, mögliche Herausforderungen in der kommenden Legislaturperiode und die Frage gesprochen, warum ein weißer cis-Mann in das Amt berufen wurde.

„Debatten gegen das Selbstbestimmungsgesetz sind antifeministisch“ – Nyke Slawik & Tessa Ganserer im Interview

Die Grünen-Politikerinnen Nyke Slawik und Tessa Ganserer sind die ersten öffentlich trans geschlechtlich geouteten Frauen im Deutschen Bundestag. Für das Siegessäule Magazin interviewte ich Nyke Slawik und fragte nach, wie sie den Umgang mit ihr als neuer Abgeordneter erlebt und für welche Politik sie sich einsetzen will.

Das Interview mit Tessa Ganserer gibt es in der aktuellen L-Mag.

Das TSG (Transsexuellengesetzt) soll und muss abgeschafft werde. Glauben Sie, dass es einfach wird und die Reform oben auf der Agenda eine Ampel-Koalition steht?

Ich glaube, die Chancen stehen so gut wie noch nie, weil die Fraktion und die Parteien, die vor allem im Bereich Queer-Politik und Selbstbestimmungsrecht am meisten gebremst haben, nicht mehr dabei sind. Das TSG wie es jetzt existiert ist in vielen seinen Formen verfassungswidrig. Bereits zehn Länder in Europa sind den Schritt in Richtung geschlechtlicher Selbstbestimmung gegangen und das ist einfach die Anerkennung, die wir als Politik leisten müssen. Der Tatsache, dass Geschlecht durchaus komplexer und vielfältiger ist als das, was wir traditionell in Geburtsurkunden eingetragen haben, müssen wir endlich Rechnung tragen. 

Wie wollen Sie sich noch als Bundestagsabgeordnete gegen Homo- und Transfeindlichkeit, generell für mehr Gerechtigkeit einsetzen? 

Erst einmal finde ich es sehr wichtig sichtbar zu sein. Ich glaube, es ist ein großes Zeichen an die Community und die Gesellschaft generell, dass jetzt die zwei ersten geouteten  trans* Personen im Bundestag sitzen, dass es außerdem so viele queere Personen wie noch nie mit 22 Abgeordneten im Bundestag gibt. Das ist immer noch verbesserungswürdig, aber es ist ein tolles Zeichen. Unter 16 Jahren CDU-Kanzlerschaft ist viel liegen geblieben. Zum Beispiel die Reformierung des Familienrechts. Familie ist heute vielfältiger als heterosexuelle Ehen. Wir müssen eine Wende machen hin zu der Anerkennung der Regenbogenfamilie und Patchworkfamilien. Es muss möglich sein, als trans* Mann schwanger zu werden und in der Geburtsurkunde als Vater anerkannt zu werden. Gleichzeitig leben wir  in einer Gesellschaft, wo Queerfeindlichkeit auf der Straße und im Internet ein Problem ist. Dagegen müssen wir mit mehr Aufklärungsarbeit herangehen. Wir brauchen ein klares Vorgehen gegen Hass und Gewalt. Wir brauchen auch Sensibilisierung in den Behörden und bei der Polizei. So etwas wie einen Aktionsplan gegen Queerfeindlichkeit ist wichtig. 

Erfahren Sie Transfeindlichkeit von Kolleg*innen? Wie ist der Umgang mit Ihnen im Bundestag?

Als politisch aktiver Mensch ist man es schon gewöhnt gerade im Netz immer wieder zur Zielscheibe von Diffamierung und Hasskommentaren zu werden. Ich fand es natürlich auch sehr verletzend wie die AfD mit dem Thema Selbstbestimmungsrecht in der letzten Legislaturperiode umgegangen ist und sich darüber lustig gemacht hat. Aber von den Grünen, aber auch von anderen Fraktionen habe ich sehr viele positive Rückmeldungen bekommen, viel Unterstützung erfahren. Viele sind froh, dass das Parlament diverser geworden ist. Man sieht, dass der gesellschaftliche Wandel, auch wenn er seine Zeit braucht,  irgendwann in der Herzkammer der Demokratie, im Parlament ankommt.

Sie hatten vorhin erwähnt, dass schon viele Länder das Selbstbestimmungsrecht eingeführt haben. In Großbritannien gab es eine große Debatte um Kathleen Stock, lesbische Philosophieprofessorin und Feministin, die sich gegen das Selbstbestimmunsgrecht ausspricht. Sie wurde in den deutschen Medien lange als Opfer beschrieben, langsam wird das Bild etwas differenzierter dargestellt. Wie positionieren Sie sich bei solchen Auseinandersetzungen?

Einerseits freue ich mich natürlich, dass das Thema Trans und die Diskriminierung die trans* Personen erfahren inzwischen eine größere Aufmerksamkeit erfährt. Die Kehrseite ist, dass auch transfeindliche Debatten viel mehr Aufmerksamkeit bekommen. Mit Leuten, die mit krassen Vorurteilen und Fake News ins Feld ziehen, versuche ich immer möglichst sachlich umzugehen. Wir müssen noch mehr aufklären und Ängste nehmen und verstehen, dass der Stempel “männlich”/“weiblich” der gesamten menschlichen Natur nicht gerecht wird. Denn trans* Personen, intergeschlechtliche und nicht binäre Menschen existieren. Wir sind zwar eine Minderheit, aber wir haben ein Recht darauf anerkannt zu werden. Meiner Meinung nach sind transfeindlichen Debatten, die sich gegen das Selbstbestimmungsrecht stellen, auch zutiefst anti-feministisch. Denn das Ziel des Feminismus muss es doch eigentlich sein, aus einer gesellschaftlichen und staatlichen Kontrolle auszubrechen und Menschen ein weitgehend selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen … und ebenso ein selbstbestimmtes Handeln über ihren Körper. Dabei ist es egal, ob das jetzt das Recht auf Abtreibung ist oder das Recht auf geschlechtliche Selbstbestimmung. Das sind ja die gleichen patriarchalen Strukturen gegen die wir uns wenden.