„Die Leute protestieren weiter, obwohl Tausende verhaftet wurden“

Das Interview wurde am 7. März auf Siegessäule veröffentlicht. Was bedeutet der Krieg gegen Die Ukraine und die Sanktionen für die LGBTIQ Community in Russland? Ein Gespräch mit einer*m Aktivist*in. Aus Sicherheitsgründen muss die Person anonym bleiben. //

Wie haben du und deine Freunde den 24. Februar erlebt? Habt ihr den Angriff erwartet?

Um ehrlich zu sein, niemand hat es erwartet. Jede*r in den Menschenrechtsorganisationen war schockiert und konnte es nicht glauben. Für mich ist es auch persönlich schwierig, denn ich habe Familie in der Ukraine. Es ist keine leichte Situation.

Es heißt, dass in Russland niemand offiziell von einem Krieg sprechen darf. Welche Informationen bekommt man?

Ich persönlich schaue keine offiziellen Fernsehsender, aber natürlich höre auch ich die Staatspropaganda. Viele Webseiten sind jetzt zusätzlich gesperrt. Öffentlich wird nicht akzeptiert, dass es ernsthafte Konsequenten für die russische Bevölkerung geben kann. Für uns Menschrechtsaktivist*innen war es vorher schon schwierig.

Was befürchtet ihr für eure Arbeit?

Wir erwarten nichts Gutes. Die Arbeit in Menschrechtsorganisationen ist in Gefahr. Die Billigung von LGBTIQ+ Rechten ist gegen die Staatsdoktrin und verfassungswidrig. Vor kurzem erst wurde Memorial aufgelöst. Wir Aktivisten versuchen natürlich weiter zu machen und so gut wie möglich dort zu helfen, wo es notwendig ist. Denn psychologische und legale Hilfe sind wichtiger denn je. Generell ist es sehr schwer vorherzusehen, was passieren wird.

Es wird also auf jeden Fall schwieriger für die queere Community unter den aktuellen Umständen.

Absolut. In Zeiten wie diesen wird die Arbeit für Menschenrechte immer schwerer. Außerdem haben die russischen Behörden ja schon zuvor keine Anzeichen gemacht, dass sich irgendwas verbessern könnte. Wir erwarten definitiv dass es schlimmer wird.

Gibt es einen Plan B, wie ihr weiter machen könnt?

Aktuell wissen wir noch nicht, wie wir weiter machen können. Wir müssen herausfinden, welche Möglichkeiten wir dann haben. Wir können einfach wenig vorhersehen im Moment. Die Situation ändert sich täglich und wir können im Prinzip nur abwarten und reagieren. Aber natürlich ist mir auch klar, dass die Situation in der Ukraine viel schlimmer ist.

Welche Folgen könnten die Sanktionen gerade für die queere Community haben?

Wir werden auf jeden Fall Schwierigkeiten bei Medikamentenlieferungen bekommen. Aber es wird auch juristisch problematischer. Zuvor haben LGBTIQ-Organisationen finanzielle Unterstützung von Organisationen und Institutionen weltweit erhalten. Sie bekommen natürlich keine staatliche finanzieller Hilfe in Russland. Der Wechselkurs ändert sich rasch und die Preise steigen bereits. Ich glaube, dass die Konsequenzen sehr unterschiedlich und weitreichend sein werden.

Du hast gerade erwähnt, wie wichtig es ist, international vernetzt zu sein. Seid ihr aktuell in Kontakt mit anderen Organisationen und habt ihr Kontakt in die Ukraine?

Wir bekommen natürlich Informationen über ihre schreckliche Lage und es ist einfach unerträglich zu sehen, wie Freunde bombardiert werden (schluckt und holt Luft). Wir versuchen trotzdem zu helfen, aber momentan können wir nicht wirklich viel tun, um zu helfen. 

Wir hören in Deutschland von den Protesten in Russland. Es ist unglaublich beeindruckend, wie viele Menschen auf die Straße gehen, obwohl es so gefährlich ist. Wachsen die Proteste? 

Die Leute gehen weiter protestieren, obwohl bereits Tausende im ganzen Land verhaftet wurden. Zum Teil wurden sie sehr brutal in Gewahrsam genommen. Dennoch gehen die Demonstrationen gehen und in meinem Umfeld versteht niemand, warum dieser Krieg überhaupt stattfindet. Das ist alles unbegreiflich. Und viele Menschen haben zu viel Angst, um öffentlich ihre Meinung zu sagen. 

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Interviews mit dem Queerbeauftragten der Bundesregierung Sven Lehmann

Für die aktuellen L-Mag (März/April) und die Printausgabe der Siegessäule (März) habe ich mit Sven Lehmann (Die Grünen) über die Aufgaben seines Amtes, mögliche Herausforderungen in der kommenden Legislaturperiode und die Frage gesprochen, warum ein weißer cis-Mann in das Amt berufen wurde.

„Debatten gegen das Selbstbestimmungsgesetz sind antifeministisch“ – Nyke Slawik & Tessa Ganserer im Interview

Die Grünen-Politikerinnen Nyke Slawik und Tessa Ganserer sind die ersten öffentlich trans geschlechtlich geouteten Frauen im Deutschen Bundestag. Für das Siegessäule Magazin interviewte ich Nyke Slawik und fragte nach, wie sie den Umgang mit ihr als neuer Abgeordneter erlebt und für welche Politik sie sich einsetzen will.

Das Interview mit Tessa Ganserer gibt es in der aktuellen L-Mag.

Das TSG (Transsexuellengesetzt) soll und muss abgeschafft werde. Glauben Sie, dass es einfach wird und die Reform oben auf der Agenda eine Ampel-Koalition steht?

Ich glaube, die Chancen stehen so gut wie noch nie, weil die Fraktion und die Parteien, die vor allem im Bereich Queer-Politik und Selbstbestimmungsrecht am meisten gebremst haben, nicht mehr dabei sind. Das TSG wie es jetzt existiert ist in vielen seinen Formen verfassungswidrig. Bereits zehn Länder in Europa sind den Schritt in Richtung geschlechtlicher Selbstbestimmung gegangen und das ist einfach die Anerkennung, die wir als Politik leisten müssen. Der Tatsache, dass Geschlecht durchaus komplexer und vielfältiger ist als das, was wir traditionell in Geburtsurkunden eingetragen haben, müssen wir endlich Rechnung tragen. 

Wie wollen Sie sich noch als Bundestagsabgeordnete gegen Homo- und Transfeindlichkeit, generell für mehr Gerechtigkeit einsetzen? 

Erst einmal finde ich es sehr wichtig sichtbar zu sein. Ich glaube, es ist ein großes Zeichen an die Community und die Gesellschaft generell, dass jetzt die zwei ersten geouteten  trans* Personen im Bundestag sitzen, dass es außerdem so viele queere Personen wie noch nie mit 22 Abgeordneten im Bundestag gibt. Das ist immer noch verbesserungswürdig, aber es ist ein tolles Zeichen. Unter 16 Jahren CDU-Kanzlerschaft ist viel liegen geblieben. Zum Beispiel die Reformierung des Familienrechts. Familie ist heute vielfältiger als heterosexuelle Ehen. Wir müssen eine Wende machen hin zu der Anerkennung der Regenbogenfamilie und Patchworkfamilien. Es muss möglich sein, als trans* Mann schwanger zu werden und in der Geburtsurkunde als Vater anerkannt zu werden. Gleichzeitig leben wir  in einer Gesellschaft, wo Queerfeindlichkeit auf der Straße und im Internet ein Problem ist. Dagegen müssen wir mit mehr Aufklärungsarbeit herangehen. Wir brauchen ein klares Vorgehen gegen Hass und Gewalt. Wir brauchen auch Sensibilisierung in den Behörden und bei der Polizei. So etwas wie einen Aktionsplan gegen Queerfeindlichkeit ist wichtig. 

Erfahren Sie Transfeindlichkeit von Kolleg*innen? Wie ist der Umgang mit Ihnen im Bundestag?

Als politisch aktiver Mensch ist man es schon gewöhnt gerade im Netz immer wieder zur Zielscheibe von Diffamierung und Hasskommentaren zu werden. Ich fand es natürlich auch sehr verletzend wie die AfD mit dem Thema Selbstbestimmungsrecht in der letzten Legislaturperiode umgegangen ist und sich darüber lustig gemacht hat. Aber von den Grünen, aber auch von anderen Fraktionen habe ich sehr viele positive Rückmeldungen bekommen, viel Unterstützung erfahren. Viele sind froh, dass das Parlament diverser geworden ist. Man sieht, dass der gesellschaftliche Wandel, auch wenn er seine Zeit braucht,  irgendwann in der Herzkammer der Demokratie, im Parlament ankommt.

Sie hatten vorhin erwähnt, dass schon viele Länder das Selbstbestimmungsrecht eingeführt haben. In Großbritannien gab es eine große Debatte um Kathleen Stock, lesbische Philosophieprofessorin und Feministin, die sich gegen das Selbstbestimmunsgrecht ausspricht. Sie wurde in den deutschen Medien lange als Opfer beschrieben, langsam wird das Bild etwas differenzierter dargestellt. Wie positionieren Sie sich bei solchen Auseinandersetzungen?

Einerseits freue ich mich natürlich, dass das Thema Trans und die Diskriminierung die trans* Personen erfahren inzwischen eine größere Aufmerksamkeit erfährt. Die Kehrseite ist, dass auch transfeindliche Debatten viel mehr Aufmerksamkeit bekommen. Mit Leuten, die mit krassen Vorurteilen und Fake News ins Feld ziehen, versuche ich immer möglichst sachlich umzugehen. Wir müssen noch mehr aufklären und Ängste nehmen und verstehen, dass der Stempel “männlich”/“weiblich” der gesamten menschlichen Natur nicht gerecht wird. Denn trans* Personen, intergeschlechtliche und nicht binäre Menschen existieren. Wir sind zwar eine Minderheit, aber wir haben ein Recht darauf anerkannt zu werden. Meiner Meinung nach sind transfeindlichen Debatten, die sich gegen das Selbstbestimmungsrecht stellen, auch zutiefst anti-feministisch. Denn das Ziel des Feminismus muss es doch eigentlich sein, aus einer gesellschaftlichen und staatlichen Kontrolle auszubrechen und Menschen ein weitgehend selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen … und ebenso ein selbstbestimmtes Handeln über ihren Körper. Dabei ist es egal, ob das jetzt das Recht auf Abtreibung ist oder das Recht auf geschlechtliche Selbstbestimmung. Das sind ja die gleichen patriarchalen Strukturen gegen die wir uns wenden. 

„Auch eine alternative Lebensform muss Miete zahlen“ – Franziska Giffey im Interview

Im Rahmen der Wahlen für das Berliner Abgeordnetenhaus und den Bundestag bringt die Siegessäule Interviews mit den Spitzenkandidaten der großen Parteien. Ich sprach mit der SPD-Kandidatin für das Berliner Abgeordnetenhaus über queere Freiräume, steigende Mieten und Liebig 34.//

Frau Giffey, Sie sagen, Berlin sei für Sie “Herzenssache”. Warum?

Weil Berlin mein Zuhause ist. Weil ich Berlinerin bin, auch wenn ich nicht hier geboren bin. Ich möchte, dass sich die Stadt auch in Zukunft gut entwickelt und, dass das, wofür Berlin steht “Freiheit, Toleranz, Weltoffenheit, lebenswerte Stadt” bestehen bleibt. Das zu erhalten, dieses Lebenkönnen wie man will und Liebenkönnen wen man will, das ist für mich Herzenssache.

Ihr Wahl-Slogan “Ganz sicher Berlin” macht es deutlich: Sicherheit ist Ihnen wichtig. Was würden Sie sagen, wer fühlt sich in Berlin nicht sicher? 

Berlins Markenkern ist die Freiheit. Die kann aber nur erhalten bleiben, wenn Menschen sich sicher fühlen. Ich meine damit einen Begriff von Sicherheit, der sehr breit ist. Dazu gehört die soziale Sicherheit. Das ist ja ein Kernanliegen der Sozialdemokratie, dass Menschen zum Beispiel keine Angst haben müssen, ob sie sich ihre Wohnung leisten können. Aber es gehört auch die innere Sicherheit dazu. Also dass Menschen geschützt sind vor Kriminalität, vor Hass, vor Hetze, vor Angriffen gegen ihre Person. Gerade für die LGBTIQ-Community ist das natürlich ein Punkt. Es gibt Orte, wo man sich sehr wohl und sicher und auch zuhause fühlt und Orte, wo es schwieriger ist.

Sie sagen es selbst, die queere Community braucht sichere Orte, sogenannte Safe Spaces. Was planen Sie? Wie möchten Sie die queere Infrastruktur unterstützen, vielleicht auch ausbauen?

Ich hatte vor kurzem mit Margot Schlönske und Juressica Parka ein sehr schönes Insta live-Gespräch. Sie sagten zum Beispiel, der Schöneberger Kiez um den Nollendorf Platz müsste doch eigentlich Weltkulturerbe werden. Und ich fand das einen interessanten Punkt. Sie haben damit ausgedrückt, dass wir hier in Berlin einen ganz besonderen Schatz haben, nämlich die größte queere Community in Europa. Aber die vorhandenen queeren Orte bleiben nicht von allein. Wir müssen darauf achten, dass diese Orte erhalten bleiben können. Gerade jetzt, wo sie besonders durch die Pandemie betroffen sind. Es ist wichtig, wenn wir den Neustart für Berlin denken, für die Berliner Wirtschaft und die Branchen, die besonders von den Folgen der Kontaktbeschränkungen betroffen sind, dass wir das queere Leben mitdenken. Ich finde es gut, dass es Orte gibt wie das schwule Museum. Das sind Anziehungspunkte auch über Berlin hinaus. Auch da sage ich ganz klar, erhalten und entwickeln. Die dezentrale Arbeit der queeren Szene finde ich sehr wichtig.

Es gibt ja alternative Begegnungsorte und Lebensorte, die gefährdet sind, wie die Wagenburg Mollies oder Liebig 34, das mitten in der Pandemie geräumt wurde. War es wirklich notwendig, das in einer Pandemie so hart durchzuziehen? Die Bewohner*innen sagten teilweise im Nachgang, dass sie nicht mehr nur kein Zuhause hatten, sondern deshalb auch nicht in die vorgeschriebene Quarantäne gehen konnten, weil sie bei Freund*innen unterkommen mussten. Passt das denn so zu Berlin als weltoffener, liberaler Stadt?

Also, dass die Liebig 34 jetzt das queere Vorzeigeprojekt der Stadt ist, ist ja eine interessante Sichtweise.

Ja, das ist ein Projekt, das genannt werden kann.

In der Liebig 34 wurde massive, linksradikale Gewalt ausgeübt, gegen Polizistinnen und Polizisten und Sicherheits– und Rettungskräfte. Ich bin immer dafür, dass wir queere Orte und Projekte unterstützen, aber nur dann, wenn sie nicht die Rechte der Anderen verletzten. Die Leute haben Anspruch auf ein Haus erhoben, das ihnen nicht gehört. Auch queere Projekte können sich nicht dadurch rechtfertigen, dass sie einfach in ein Haus gehen und keine Miete bezahlen. Jeder, der in dieser Stadt lebt, muss sich an bestimmte Regeln halten. 

Menschen, die sich in einem queeren oder in einem alternativen Wohnprojekt zusammen finden, machen das ja meistens, weil sie eine alternative Lebensform leben wollen und das so nicht immer und überall möglich ist. Es geht um genau diesen Raum, um diese schützenswerte Infrastruktur.

Auch eine alternative Lebensform muss Miete zahlen. Ganz einfach. Alle Anderen, die in dieser Gesellschaft ordentlich Miete bezahlen, haben dafür kein Verständnis.

Wir brauchen Wohnraum, der bezahlbar ist. Es gibt das Problem der Gentrifizierung in der Stadt. Wie wollen Sie dem begegnen? Wie wollen Sie bezahlbare Wohnungen in die Stadt bringen?

Nicht, indem wir tolerieren, dass Steine vom Dach auf die Polizei geworfen werden! Das ist für mich keine Diskussion mehr über Gentrifizierung, sondern das ist radikale Gewalt, nichts weiter. Richtig ist, dass die Stadt in den letzten 10 Jahren um über 200.000 Menschen gewachsen ist. Sie alle brauchen Wohnraum. Wir werden diese Situation nur entspannen, wenn wir zwei Dinge tun: den Schutz der Mieterinnen und Mieter achten und voran bringen und, wenn wir zum anderen Wohnungen neu bauen, das Angebot vergrößern. Wir müssen klare Regeln für den sozialen Wohnungsbau haben. Es gibt es ja in Berlin das Modell der “Kooperativen Baulandentwicklung”. Das finde ich sehr wichtig. Jeder, der neu baut, ist verpflichtet, auch einen Anteil an bezahlbarem Wohnraum zu schaffen. Er muss auch einen Beitrag zur sozialen Infrastruktur leisten, zum Beispiel zu den Kitaplätzen. Unsere Aufgabe, als Staat, als diejenigen, die dafür sorgen müssen, dass Wohnraum auch bezahlbar bleibt, ist, regulierend einzugreifen. Wenn Menschen Mietwucher betreiben, wenn sie weit über die Mietpreisbremse und den Mietenspiegel hinaus gehen. Dann ist ganz wichtig, klare Kante zu zeigen und auch unfairen Vermietern klipp und klar zu sagen: So geht es nicht. Um das Angebot von Wohnungen zu vergrößern, ist aber der Neubau das Wichtigste. Das will zur Chefinnensache machen.

Mit wem würden Sie gerne diese Ideen durchsetzen? Mit wem würden Sie gerne koalieren?

Wir müssen jetzt erst Mal diese Wahl und das Ergebnis abwarten. Wir haben als SPD ganz klar gesagt, was wir wollen, wofür wir stehen. Wir haben uns auf Schwerpunktthemen fokussiert. Für mich ist entscheidend, mit welchem Partner wir möglichst viele unserer Ziele und unser Programm auch umsetzen können.

Ein wichtiger Punkt in Ihrer Zeit als Familienministerin waren die Verhandlungen zum Transsexuellengesetz (TSG). Die SPD hat sie abgebrochen, weil es keine Einigung mit der CDU gab. Von der Opposition wurde Ihnen zum Teil vorgeworfen, dass Sie den Gesetzesentwurf nicht leidenschaftlich genug eingebracht hätten. Was sagen Sie dazu?

Wir haben ja eine ganz klare Position dazu auch hier in der Berliner SPD. Wir setzen uns dafür ein, dass das TSG abgeschafft und durch ein modernes Recht ersetzt wird. So, dass jeder auch seiner Identität entsprechend leben kann, ohne sich immer wieder rechtfertigen zu müssen und gegängelt zu werden durch Regularien. Als ich als Bundesfamilienministerin begonnen habe, gab es eine sehr enge Zusammenarbeit zwischen mir und Katharina Barley, die auch sehr für den Entwurf gekämpft hat. Wir haben dann aber irgendwann gesagt, wir können jetzt keinen Entwurf durchdrücken, der von der Community nicht als Verbesserung gesehen wird. Deswegen ist es damals nicht zustande gekommen. Wir sind immer wieder an diesen unterschiedlichen Auffassungen mit der Union gescheitert. Auch bei der Reform des Adoptionshilferechts und des Abstammungsrechts und dem Thema der „Mitmutterschaft“ konnte keine Einigung gefunden werden. Es wäre beinahe das neue Adoptionshilfegesetz daran gescheitert. Letztendlich haben wir die Beratungspflicht für lesbische Mütter und Paare abschaffen können. Ich habe als Familienministerin immer einen sehr breit gefassten Familienbegriff vertreten. Familie ist überall dort, wo sich Menschen umeinander kümmern. Und wir müssen ermöglichen, dass auch die Regenbogenfamilien die gleichen Rechte und Rahmenbedingungen haben, wie alle anderen Familien auch.

„Ich bin Schauspielerin und kann alles spielen“ – Ulrike Folkerts im Interview

Ulrike Folkerts hat zu ihrem 60. Geburtstag ein Buch geschrieben. „Ich muss raus“ wurde vom Brandstätter Verlag herausgegeben. Für die Siegessäule habe ich der ersten weiblichen Tatort-Kommissarin und offen lesbischen Schauspielerin einige Fragen gestellt.

Frau Folkerts, warum haben Sie sich entschieden das Buch „Ich muss raus“ zu schreiben? An wen richtet es sich?

Nach dem Angebot vom Brandstätter Verlag, eine Biografie zu schreiben, habe ich meine Freund:innen gefragt, ob sie das interessieren würde. Sie sagten alle: „Ja, du hast was zu erzählen, du bist ein Vorbild für junge Kolleg:innen, für Menschen aus der queeren Szene. Dein Weg ist besonders, deine Rolle als Frau in der TV- und Filmbranche ist einzig.“ Das war Grund genug, mich hinzusetzen und zu schreiben. Ich denke, mir ist ein sehr persönliches Buch gelungen, und es richtet sich an alle, die das interessiert.

Sie schreiben, dass Filme, in denen sie gerne spielen wollen, im deutschen Fernsehen nicht existieren. Welche Filme müsste es heute geben? Welche queeren Rollen würden Sie sich wünschen?

Meine Kritik richtet sich gegen die Tatsache, dass Frauen über fünfzig kaum mehr Rollen angeboten bekommen. Geschichten von Frauen, die mitten im Leben stehen, Heldinnen sein dürfen wie Frances McDormand in „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“ oder jetzt in „Nomadland“, gibt es kaum bis gar nicht. Das bedauere ich sehr. Almodóvar ist einer meiner Lieblingsregisseur:innen, weil er es schafft, tolle Frauenfiguren zu erzählen, queere Themen zu installieren, und damit ein breites Publikum erreicht.

Warum ist der deutsche Film, ihrer Meinung nach, noch immer sehr weiß, männlich, heteronormativ und klischeebesetzt, wo doch die Zuschauer:innen mit der Zeit gehen und offen für andere Narrative scheinen?

Zurzeit sind sehr viele Gespräche in Gang gekommen bezüglich Diversität im TV und Film. Durch die Streamingdienste, die Vielfalt schon viel mehr beherzigen, ist das junge Publikum längst abhanden gekommen. Das öffentlich-rechtliche Fernsehen bemüht sich, da etwas aufzuholen, moderner zu werden, sich für andere Erzählweisen zu öffnen. Es gibt jetzt eine Art Bestandsaufnahme, um zu erkennen, wie sehr der deutsche Film stereotypisch erzählt, um das aufzubrechen. Ich bin guter Hoffnung, dass wir das schon bald sehen werden.

Als Lena Odenthal wurden Sie 1989 zur „Tatort“-Kommissarin. Sie waren damit eine der ersten Frauen in dieser Rolle. Sie wollten aber nicht, dass Lena Odenthal auch zur ersten lesbischen Kommissarin wird, als man Ihnen vor einigen Jahren diese Figurenentwicklung vorschlug. Warum?

Als ich 1989 mit „Tatort“ anfing, war ich nicht geoutet, hatte das auch nicht vor, denn ich hatte Angst, in diesem Beruf deswegen benachteiligt zu werden. Es war undenkbar. Es gab keinerlei Vorbilder. Außerdem ist Lena Odenthal eine Rolle, sie ist und bleibt hetero. Ich bin Schauspielerin und kann alles spielen. Mir wäre das Lesbischsein dieser Figur im Nachhinein sehr merkwürdig vorgekommen und zu nah an meiner Person.

Sie schwanken zwischen dem Wunsch, nicht über Ihre Sexualität reden zu müssen, um sie dann doch wieder in der #actout-Aktion zum Thema zu machen. Warum entscheiden Sie sich immer wieder für einen Kommentar?

Es ist nicht wichtig, permanent über seine sexuelle Orientierung zu reden, Auskunft darüber zu geben oder sich damit interessant machen zu wollen. Ich habe mit angewöhnt eine gewisse Selbstverständlichkeit dafür an den Tag zu legen. Ja, ich kann darüber erzählen, wenn es jemanden interessiert, aber ich muss keine Parolen loswerden. Die Aktion und das Manifest von #actout fand ich sofort unterstützenswert. 185 Schauspieler:innen, die sich u.a. als lesbisch, schwul, bi, tarns*, queer, inter und nonbinär identifizieren, machen auf ihre Situation aufmerksam. Wir haben das Jahr 2021, und es ist nach wie vor nicht normal, dass sich diese Menschen outen, weil sie Benachteiligung bei Besetzung erfahren. Außerdem wünscht sie #actout eine größere Sichtbarkeit verschiedenster Lebensformen in den Geschichten, die im TV und im Film erzählt werden. Ich war begeistert, dass es so viele sind, die mobilmachen. Die Wucht ist enorm, das Gespräch mit den Verantwortlichen ist in gang gekommen, und das Staunen, dass dieses Thema so eine Brisanz hat, könnte nicht größer sein.

Verstehen Sie die Kolleg:innen, die sich nicht outen aus Angst vor einem Image- und dann in der Folge auch Jobverlust?

Die Angst ist ja nicht unbegründet. Jede Person muss für sich selbst entscheiden, ob ein Outing wichtig ist, persönlich, privat oder öffentlich. Ich war froh, als mein Geheimnis gelüftet war, auch wenn es mich für einen Moment geschockt hat, weil ich das Ausmaß nicht absehen konnte. Aber sowohl mein Sender SWR als auch Freund:innen und Familie standen immer hinter mir. Das brauchen wir alle.

Nach sehr heftigen Reaktionen zu der Aktion #allesdichtmachen haben Sie innerhalb kürzester Zeit Ihren Beitrag zurückgezogen und sich dafür entschuldigt. Warum haben Sie sich beteiligt? Und warum haben Sie sich dann so schnell distanziert?

Ich habe mitgemacht, weil ich überzeugt war, dass wir als Kunstschaffende Kritik an der Regierung äußern sollten und einen Diskurs anregen wollten über die Corona-Maßnahmen, die uns seit einem Jahr auf unterschiedlichste Weise beeinträchtigen. ich bin die Letzte, die das Virus und die daraus resultierenden Maßnahmen nicht ernst nimmt, aber wir wollten darüber reden, wie wir etwas ins Positive verändern könnten. Der Monstershitstorm, den wir dann erlebt haben, hat jegliche Form des Gesprächs darüber torpediert. Die Mails, die mich erreicht haben, haben mir gezeigt, die Falschen beklatschen uns, man schubst uns in die Ecke der Querdenker und AfDler. Das war Horror. Manche Menschen sind enttäuscht und verletzt, was ich sehr ernst genommen habe und was mich zum Rückzug veranlasst hat. Die Aktion ist für mich im Nachhinein ordentlich schiefgegangen, die Form der Satire war falsch, ich räume meinen Fehler ein, und ja, ich entschuldige mich bei denen, die ich vor den Kopf gestoßen habe.