Verlegen als Selbstermächtigung

In Deutschland erscheinen jährlich über 60.000 Bücher. Doch wer entscheidet, was auf den Büchertischen landet? Zu weiß, zu männlich, zu konservativ seien viele Neuerscheinungen im Mainstream lautet die Antwort manch unabhängiger Kleinverlage. Doch kann ihnen der Aufbruch, die Revolution des Buchmarktes in Zeiten von Pandemie und Papierkrise gelingen? //

Eigentlich habe sie gar keine Lust mehr über ihren Verlag zu reden, sagt Nikola Richter lachend. Sie steht vor dem Haupteingang eines alten Fabrikgebäudes in Neukölln. Mehrere Kreativagenturen und Freischaffende haben sich hier zusammen getan. Richter möchte viel lieber über die Bücher sprechen, die sie in ihrem Ein-Frau-Verlag mikrotext herausbringt. Die mikrotext-Bücher sind klein und kompakt. Bequem passen sie auf eine ausgestreckte Hand und damit in die größeren Jacken- und Manteltaschen. Das Büro von mikrotext liegt im 3. Stock des Gebäudes und geht von einem weiten Flur ab, in dem ein Rennrad steht und Plakate hängen. Im Büro selbst herrscht eine entspannte Arbeitsatmosphäre. Ein Redakteur, mit dem sich die Verlegerin das Zimmer teilt, sitzt in eine Decke eingewickelt am Schreibtisch und tippt in seinen Laptop. Es sieht aus wie in einer WG-Küche. Tee und Kaffee stehen im Regal neben einem Wasserkocher. Es herrscht konzentrierte Fülle auf dem Schreibtisch.

Das Selbstwertgefühl sei wichtig beim Verlegen, erklärt Nikola Richter später auf einem Spaziergang am nahe gelegenen Kanal. Man müsse überzeugt davon sein, dass man zeitlose, gute Titel im Programm habe. Bücher, die es sich lohnt zu lesen. Wie beispielsweise “Die ganze Geschichte” von Abou Saeed, der als Facebook-Literat, syrischen und deutschen Alltag beschreibt und heute in Berlin lebt. Oder Rasha Abbas Kurzgeschichten “Eine Zusammenfassung von allem was war”. Im Februar hatte Sebastian Nübling die Kurzgeschichtensammlung, in der es um die Suche nach Identität und Halt geht, am Gorki Theater inszeniert. 

„Das Selbstwertgefühl ist wichtig beim Verlegen.“

Nikola Richter von mikrotext

Verleger*innen tragen eine große Verantwortung. Was wählen sie aus, was landet irgendwann auf dem (digitalen) Verkaufstisch und was verschwindet in den Schubladen? Welches Buch schafft es vielleicht bis auf die Bühne oder ins Fernsehen? Intuitiv treffe sie die Entscheidungen und das Programm erschließe sich dann im Prinzip rückwirkend, erklärt die Verlegerin von mikrotext. Nikola Richter denkt und spricht schnell. Sie läuft zügig, beobachtet genau, was um sie herum vorgeht. Ideen sprudeln aus ihr heraus, als gäbe es da irgendwo eine unversiegbare Quelle. Ihre verlegten Texte verbinden neue Narrative sowohl inhaltlich als auch ästhetisch. Viele der Arbeiten sind oftmals im Internet entstanden. Was diese Textform häufig von “klassischen” Texten unterscheidet, ist die sogenannte “Ansprachesituation”. Soll heißen, dass die Texte bereits in Dialogen gedacht und auch so geschrieben wurden. So lag der Anfang von mikrotext 2013 auch bei digitalen Originalen. Das öffnete völlig unbekannten Autor*innen die Tür auf den Buchmarkt. Im Internet fallen häufig die klassischen “Gatekeeper” weg. Jede*r kann veröffentlichen, ohne durch Redaktion, Lektorat zu wandern oder von Agenturen vermittelt zu werden. Das hat Vor- und Nachteile, aber unbekannte Autor*innen werden so zumindest nicht sofort aussortiert.

Bei mikrotext pflegt die 46jährige Verlegerin gleichzeitig Kontakte, schaut sich auf dem aktuelle Autor*innenmarkt um, wählt aus und erledigt vom Vertrieb zur Pressearbeit alles selbst. Große Verlage arbeiten häufig mit vielen verschiedenen Abteilungen und mit Agenturen, die neue Autor*innen vorschlagen. Aber die Auswahl ist groß und der Konkurrenzdruck in Zeiten von Papiermangel und Inflation noch härter. Immer schwieriger sei es für Autor*innen abseits des Mainstreams und der bekannten Bestseller-Listen einen Verlag für sich zu finden, heißt es auch in Verlagskreisen hinter vorgehaltener Hand. Wirklich Neues trauen sich aktuell die wenigsten Häuser. Das momentan weltweit größte Verlagshaus ist Penguin Random House und inzwischen für ein Viertel aller Buchpublikationen verantwortlich. Seit der Fusion und Übernahme von Marktanteilen der Verlags- und Mediengruppe Pearson im Jahr 2020 gehört Penguin Random nun mehrheitlich dem deutschen Medienkonzern Bertelsmann. Über 300 Einzelverlage tummeln sich nun weltweit unter dem Dach von Penguin Random House. Das sind völlig andere Größen als bei unabhängigen (Klein-) Verlagen. Es kommt also nicht nur darauf an, was verlegt wird, sondern auch, wer was verlegt. Große Häuser haben mehr Reichweite und agieren international.

Die Arbeit eines Verlags versteht Nikola Richter politisch, denn die Auswahl der Bücher ist eine öffentliche Handlung, die sie angreifbar macht. Und zugleich sei es “Care-Arbeit für den Buchmarkt, um bestimmte Dinge, die nicht sichtbar sind, sichtbar zu machen.” Dabei verselbständige sich ein Verlag auch. Denn die Autor*innen und ihre Werke machten mit ihren Stimmen den Verlag aus, würden ihn als Ganzes ergeben.

Auch Yasemin Altınay hat 2019 mit ihrem Verlag Literarische Diverse politisch gedacht, als sie einen Raum für marginalisierte Stimmen schaffen wollte, die sonst in der breiten Masse des Literaturbetriebs eher untergehen. Im letzten Jahr kam zudem ein erster Lyrikband von Ọlaide Frank heraus, in dem es um die Realitätserfahrungen einer Schwarzen Frau geht. Altınay war 2021 eine der Titelträger*innen der Auszeichnung Kultur- und Kreativpilot*innen. Die Bundesregierung vergibt sie jährlich an Unternehmen der Kultur- und Kreativwirtschaft, um junges und vielseitiges Unternehmertum zu unterstützen. Trotz dieser Unterstützung aber stößt die Verlegerin immer wieder an strukturelle Grenzen, wie sie selbst sagt. Verlagsauslieferer melden sich nicht immer zurück und allein ist der Vertrieb fast nicht zu stemmen. Die Frau, die nichts Geringeres will als die Branche zu revolutionieren, die Verlegen als Selbstermächtigung versteht, muss sich zwischendurch zurückziehen und Kräfte sammeln. Der Kampf gegen das etablierte System ist zehrend. Ihre 1-Zimmer-Wohnung im Osten von Berlin soll ein Rückzugsort sein und war aber in den ersten zwei Jahren seit Verlagsgründung vor allem Redaktionsbüro und Lager gleichzeitig. Die Magazine stapelten sich im schmalen Buchregal neben dem Sofa und Bestellungen packte Yasemin Altınay persönlich ein. Im Frühjahr 2022 ging das nicht mehr. Sie hat Lager und Versand an ein Familienunternehmen abgegeben. Im Sommer redigierte sie die fünfte Ausgabe des Magazins zum Thema “Traum”, dass am 22. August erschienen ist, in einem kleinen Büro. Das hatte sie zusätzlich angemietet, damit die 1-Zimmer-Wohnung wurde wieder zum Rückzugsort werden konnte.

Die Magazine von Literarische Diverse liegen unter anderem im Neuköllner Kultbuchladen Shesaidaus. Hier finden Leser*innen fast alles zu den Themen Gender, Feminismus, Ani-Rassismus und  Anti-Seximus aus der Sicht von Frauen und queeren Autor*innen. Öffnet man die Tür vom wuseligen Kottbusser Damm kommend, tritt man in einen klaren, freundlichen Raum, der gut überschaubar ist. Mit etwas Glück riecht es nach frisch gebackenen Zimtschnecken, die es im hinteren Teil des Ladens zu kaufen gibt, dazu Kaffee oder Tee. Manchmal trifft man auch auf Autor*innen, deren Bücher hier verkauft werden. Man kann dann seine Zimtschnecke neben Carolin Emcke verputzen oder trifft auf Linus Giese, der bis vor kurzem Mitarbeiter von Shesaid war. Es ist vor allem ein relativ junges Publikum, das hier seit Dezember 2020 stöbert. Auch Yasemin Altınay ist darunter, die mit der Besitzerin Emilia von Senger ein paar Worte wechselt. Die beiden kennen sich von früheren Lesungen, deshalb war die Literarische Diverse von Anfang an auf dem Verkaufstisch dabei. Doch nicht nur der Buchladen ist klein. Auch die Auflagen der Literarischen Diverse sind es. Wen also können die Idealist*innen der Buchszene erreichen und was können sie wirklich verändern?

„Es ist auch mein One-Woman-Vorteil, dass ich keinen großen Verlag an der Backe habe. (…) Ich bin flexibler.“

Yasemin Altınay von Literarische Diverse

Emilia von Senger wünscht sich paritätische Verlagsprogramme, wie sie dem ZDF in einem Interview erklärte und dass trans Menschen und Menschen mit Migrationserfahrung ebenfalls in den Verlagen sitzen. Ihren Buchladen sieht sie als eine “Gleichstellung in minimaler Art und Weise von einer extremen Ungerechtigkeit, die in unserer Gesellschaft jeden Tag passiert.” Auch für Yasemin Altınay ist der Verlag Literarische Diverse ein Herzensprojekt, um Autor*innen und Sichtbarkeit zu gewinnen. “Ich bin nicht an das Projekt gegangen mit dem Ziel super bekannt zu werden und daraus Gewinn zu schöpfen,” erklärt sie im Gespräch. Sie überlegt, lässt sich Zeit bei den Antworten und setzt dann nach: “Und es ist auch mein One-Woman-Vorteil, dass ich keinen großen Verlag an der Backe habe und ich meine Ideen erst Mal mit 20 Abteilungen absprechen müsste. Ich bin flexibler und kann spontan entscheiden.” Wenn es also aktuelle Entwicklungen gibt, kann sie direkt darauf reagieren und das Thema der nächsten Magazin-Ausgabe entsprechend anpassen. So kam es zu dem Thema der dritten Ausgabe von Literarische Diverse mit dem Titel “Widerstand”, weil im August 2020 einige Rechtsextreme und Querdenker versuchten den Reichstag zu stürmen. Die Auflage mit 1500 Exemplaren ist bis heute ausverkauft.

2021 wurden knapp 64 000 Bücher in Deutschland verlegt, etwas weniger als im Jahr zuvor. Seit Mai diesen Jahres sinken die Absatzzahlen wegen des Angriffskrieges von Russland auf die Ukraine und den damit verbundenen Lieferengpässen bei Holz, also auch Papier und der steigenden Inflation. Aber die Verkaufszahlen des Internetbuchhandels wachsen seit der Pandemie stetig an. Mehr und mehr Menschen kaufen digital. Für kleine, unabhängige Verlage ist der Verkauf über Online-Shops auf Webseiten und den Sozialen Medien sowie die großen und kleinen Buchmessen besonders wichtig. “Mein Projekt wäre ohne Social Media wahrscheinlich nicht möglich oder es hätte viel länger gedauert mich zu etablieren. Auch finanziell wäre es viel aufwendiger,” ist sich Yasemin Altınay sicher. Am Anfang ist sie noch alleine durch die Stadt gezogen und hat Poster geklebt. Das aber hat sie schnell wieder verworfen. Zu groß war der Aufwand. Auch der Buchladen Shesaid setzte von Anfang an auf die sozialen Medien und hatte schon vor der Eröffnung im Dezember 2020 auf Instagram 20 000 Follower*innen. Nikola Richter ist von jeher in den Sozialen Medien umtriebig und nutzt jede Gelegenheit, um ihren kleinen Verlag vorzustellen. Anfang Juli fand am Wannsee im Literarischen Colloquium eine Freiluftmesse mit 40 Verlagen und vielen Lesungen bei semi-sommerlichen Temperaturen mit Blick auf den Wannsee statt. Es braucht nicht immer die ganz großen Buchmessen, auch lokale Veranstaltungen sind attraktiv,  so scheint es.

Wie wichtig die großen Messen dennoch für Verlage und Autor*innen sind, zeigt die Aufregung immer darüber, wenn die Buchmesse (wieder einmal) abgesagt wird. Denn sie ist der Ort der Vernetzung und der Werbung. Durch ihre Größe und Reichweite hat sie die Macht der Sichtbarkeit. Dadurch tragen die Organisator*innen ein gewisses Maß an Verantwortung. Messen werden häufig von Stadt und Land gefördert. Durch die Pandemie verursachten Ausfälle wurden beispielsweise mithilfe eines Absicherungsprogramms von Bund und Ländern, also von Steuergeldern finanziell aufgefangen. Im Corona-Jahr 2021 gab es deshalb 4 Millionen Euro aus dem Konjunkturprogramm Neustart Kultur. Anfang Februar gab die Leipziger Buchmesse bekannt, dass sie “schweren Herzens” die diesjährige Messe wieder absagen müsse. Grund waren nach eigenen Angaben die vielen vorausgegangenen Stornierungen diverser Aussteller*innen, da es durch die Omikron-Variante des Coronavirus personelle Engpässe gebe. Die Pressesprecherin der Buchmesse Leipzig machte am Telefon etwas angespannt aber bemüht freundlich klar, dass es durch alle Bereiche hindurch Absagen gegeben habe, nicht nur große sondern auch kleine Verlage hätten Abstand von einer Teilnahme genommen. Auffällig war dennoch, dass nach der Stornierung der Holtzbrinck-Gruppe (wozu u.a. die Verlage Rowohlt, Kiwi, S.Fischer gehören) die Messe einen Tag später abgesagt wurde. Nikola Richter erklärt im Deutschlandfunk Kultur dazu, dass kleine Verlage und ihre Autor*innen bei diesen Großkonzepten häufig nicht mitgedacht würden. Sie vermisse kreative Lösungen, den Versuch, sich an die gegebene Situation anzupassen. Kurzerhand organisierte sie einen digitalen Buchmesse-Empfang, den sie über ihren mikrotext-Instagramkanal bewarb. 

Nicht nur die Verlegerin von mikrotext versuchte den Umständen entsprechend zu reagieren. Auch andere kleinere und größere unabhängige Verlage gaben nicht auf und schufen auf dem Werk 2- Gelände in Leipzig Ende März eine alternative Pop up-Messe. Das einstige Industriegelände, das heute zwischen alten Backsteinmauern und auf Kopfsteinpflaster ein Ort für Konzerte und Ausstellungen ist, war der perfekte Platz für ein Treffen aller Buchliebhaber*innen jenseits der typischen Großveranstaltungen. Bunt ging es zu in der umgebauten Halle mit Loft-Flair und die Idealist*innen der Szene zeigten auch hier, dass es Interesse und Ideen für alternative Formen der Bücher und Buchvermarktung gibt. 10 000 Besucher seien da gewesen, erzählen Leif Greinus und Gunnar Cynybulk, die es geschafft hatten, innerhalb kürzester Zeit mit viel Hilfe und Unterstützung das Event auf die Beine zu stellen. Auch das ist ein Akt der Selbstermächtigung zwischen Künstler*innenateliers und Ausstellungshallen. Dass sich Verleger*innen und Autor*innen auch sehr spontan allein organisieren könnten, hat die Szene im Frühjahr zumindest unter Beweis gestellt.

Am Ende sind die Leser*innen ausschlaggebend. Es gilt, deren Lebenswelt abzubilden und neue Debatten anzustimmen und Gedankengebäude zu ermöglichen. Deshalb muss es um die Bücher gehen, wie Nikola Richter sagt. Die kleinen Buchhandlungen fernab der großen Buchhandelsketten leben von und mit den Vorschlägen und Nachfragen der Kundschaft. Häufig gibt es persönliche Beziehungen zwischen Händler*in, Käufer*in und Autor*in. Außerdem stehen die privaten Buchhandlungen oft in engem Kontakt mit den Verlagen und können sich durch die Zusammenarbeit mit Kleinverlagen individuell ausrichten. Der Geist in diesen Buchläden ist persönlich und setzt bewusst inhaltliche Akzente. Der Unterschied zu großen Ketten, die sich meistens in Einkaufsstraßen oder -zentren befinden und sich über zwei, manchmal drei Etagen erstrecken, ist offensichtlich. Wo Ketten auf große Auswahl klassischer Genres wie Krimi, populäre Sachliteratur und Reisebücher setzen, dazu noch die Bestsellerliste des Spiegels abarbeiten, gibt es weniger Fokus auf Nischenthemen und damit kaum Platz für vielfältigere Stimmen. Als Multiplikatoren sind die privaten Buchläden also für kleinere, unabhängige Verlage nicht weg zu denken, garantieren sie doch etwas Vielfalt auf einem von wenigen großen Verlagshäusern bestimmten Markt.

(Eine gekürzte Version der Reportage ist Anfang Oktober im nd erschienen. Darin gab es Fehler, die hier korrigiert wurden. Der Text wurde im Rahmen der Freien Journalistenschule als Abschlussarbeit geschrieben.)

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Er kam aus Mariupol

Bis Anfang März waren circa 70 000 Ukrainer*innen in Berlin angekommen und suchten nach einer Unterkunft. In den ersten beiden Wochen hat ein Bündnis aus Freiwilligen am Berliner Hauptbahnhof die Vermittlung organisiert. Mit einem der Freiwilligen konnte ich sprechen. Eine ausführlichere Version des Artikels erschien am 9. März auf Siegessäule. //

Es ist zugig am Berliner Hauptbahnhof an diesem Dienstagmittag. Eine Gruppe von sechs Freiwilligen steht hinter einem großen Tisch, auf dem Listen für Unterkünfte und Informationszettel für Ankommende liegen. Die bunten Queer- und Transgender-Flaggen sind nicht nur auf den Westen der Helfer*innen angebracht. Auch hinter ihrem Stand sind sie deutlich zu sehen. Rechts gibt es einen Treffpunkt, der BPoC-Geflüchteten gilt, ebenfalls deutlich markiert mit Schildern. Unweit davon stehen die einzigen Polizist*innen, die in diesem Bereich des Bahnhofs zu sehen sind.

Patrick trägt eine dicke Winterjacke und Mütze. Über eine Telegram–Gruppe haben sich die Freiwilligen der LGBTIQ+ – Gruppe organisiert. Er ist seit einigen Tagen am Berliner Hauptbahnhof und hilft. In zwei Stunden-Schichten werden die Freiwilligen eingeteilt, viele bleiben länger. Alle tragen als Kennzeichen eine signalgelbe Weste. Orange ist sie, wenn die Person Russisch oder Ukrainisch sprechen kann.

Der Ankunfts- und Freiwilligen-Bereich ist voller Menschen und wirkt dennoch nicht hektisch. Plakate an Säulen zeigen an, wo es Essenstände, Medikamente und Listen für Unterkünfte gibt. Pfeile auf dem Boden machen die Laufrichtung klar, die von allen konsequent ignoriert wird. Es gibt Kleider- und Sachspenden, in einem hinteren Bereich des Bahnhofs, der weiter Richtung Busbahnhof führt. Von dort aus können die Geflüchteten in verschiedene Städte weiter fahren. Es gibt Busse bis nach Paris. Auch an das Wohl von Tieren denkt man und organisieren über die Berliner Tiertafel Futterspenden.

Der erste Zug aus Polen komme nach neun Uhr, erzählt Patrick und dann gehe es über den ganzen Tag verteilt weiter. Manche Geflüchteten kommen alleine, wie der junge Teenager Y. Er hatte es geschafft aus Mariupol, der eingeschlossenen Hafenstadt im Südosten der Ukraine zu fliehen und war nun in Berlin gelandet. Er wollte weiter nach Nürnberg fahren zu einem Freund, den Y. aber nicht mehr erreichen konnte.

„Ich komme ursprünglich aus Nürnberg,“ berichtet Patrick. Er habe dann seine Community über Instagram kontaktierte und um Hilfe gebeten. Innerhalb kürzester Zeit konnte darüber nicht nur eine Unterkunft für Y. organisiert werden sondern auch die Möglichkeit zu arbeiten. Das sei ihm wichtig gewesen. Auch am Berliner Hauptbahnhof versuchte Y. zu helfen, solange er auf seinen Zug nach Nürnberg wartete und brachte den Freiwilligen Essen. Solche Erfahrungen seien unglaublich erfüllend, schildert Patrick. Auch das Miteinander der Helfer*innen sei enorm wichtig. 

Bisher sind so gut wie alle Angebote freiwillig organisiert. Der Berliner Senat beschloss Anfang März bis zu 20.000 Ukrainer bedarfsgerecht zu versorgen und hat zudem die besondere “Dringlichkeit für die Schaffung einer zusätzlichen Erstaufnahmestruktur festgestellt”. Inzwischen gibt es auch ein Versorgungszelt vor dem Hauptbahnhof.

„Die Leute protestieren weiter, obwohl Tausende verhaftet wurden“

Das Interview wurde am 7. März auf Siegessäule veröffentlicht. Was bedeutet der Krieg gegen Die Ukraine und die Sanktionen für die LGBTIQ Community in Russland? Ein Gespräch mit einer*m Aktivist*in. Aus Sicherheitsgründen muss die Person anonym bleiben. //

Wie haben du und deine Freunde den 24. Februar erlebt? Habt ihr den Angriff erwartet?

Um ehrlich zu sein, niemand hat es erwartet. Jede*r in den Menschenrechtsorganisationen war schockiert und konnte es nicht glauben. Für mich ist es auch persönlich schwierig, denn ich habe Familie in der Ukraine. Es ist keine leichte Situation.

Es heißt, dass in Russland niemand offiziell von einem Krieg sprechen darf. Welche Informationen bekommt man?

Ich persönlich schaue keine offiziellen Fernsehsender, aber natürlich höre auch ich die Staatspropaganda. Viele Webseiten sind jetzt zusätzlich gesperrt. Öffentlich wird nicht akzeptiert, dass es ernsthafte Konsequenten für die russische Bevölkerung geben kann. Für uns Menschrechtsaktivist*innen war es vorher schon schwierig.

Was befürchtet ihr für eure Arbeit?

Wir erwarten nichts Gutes. Die Arbeit in Menschrechtsorganisationen ist in Gefahr. Die Billigung von LGBTIQ+ Rechten ist gegen die Staatsdoktrin und verfassungswidrig. Vor kurzem erst wurde Memorial aufgelöst. Wir Aktivisten versuchen natürlich weiter zu machen und so gut wie möglich dort zu helfen, wo es notwendig ist. Denn psychologische und legale Hilfe sind wichtiger denn je. Generell ist es sehr schwer vorherzusehen, was passieren wird.

Es wird also auf jeden Fall schwieriger für die queere Community unter den aktuellen Umständen.

Absolut. In Zeiten wie diesen wird die Arbeit für Menschenrechte immer schwerer. Außerdem haben die russischen Behörden ja schon zuvor keine Anzeichen gemacht, dass sich irgendwas verbessern könnte. Wir erwarten definitiv dass es schlimmer wird.

Gibt es einen Plan B, wie ihr weiter machen könnt?

Aktuell wissen wir noch nicht, wie wir weiter machen können. Wir müssen herausfinden, welche Möglichkeiten wir dann haben. Wir können einfach wenig vorhersehen im Moment. Die Situation ändert sich täglich und wir können im Prinzip nur abwarten und reagieren. Aber natürlich ist mir auch klar, dass die Situation in der Ukraine viel schlimmer ist.

Welche Folgen könnten die Sanktionen gerade für die queere Community haben?

Wir werden auf jeden Fall Schwierigkeiten bei Medikamentenlieferungen bekommen. Aber es wird auch juristisch problematischer. Zuvor haben LGBTIQ-Organisationen finanzielle Unterstützung von Organisationen und Institutionen weltweit erhalten. Sie bekommen natürlich keine staatliche finanzieller Hilfe in Russland. Der Wechselkurs ändert sich rasch und die Preise steigen bereits. Ich glaube, dass die Konsequenzen sehr unterschiedlich und weitreichend sein werden.

Du hast gerade erwähnt, wie wichtig es ist, international vernetzt zu sein. Seid ihr aktuell in Kontakt mit anderen Organisationen und habt ihr Kontakt in die Ukraine?

Wir bekommen natürlich Informationen über ihre schreckliche Lage und es ist einfach unerträglich zu sehen, wie Freunde bombardiert werden (schluckt und holt Luft). Wir versuchen trotzdem zu helfen, aber momentan können wir nicht wirklich viel tun, um zu helfen. 

Wir hören in Deutschland von den Protesten in Russland. Es ist unglaublich beeindruckend, wie viele Menschen auf die Straße gehen, obwohl es so gefährlich ist. Wachsen die Proteste? 

Die Leute gehen weiter protestieren, obwohl bereits Tausende im ganzen Land verhaftet wurden. Zum Teil wurden sie sehr brutal in Gewahrsam genommen. Dennoch gehen die Demonstrationen gehen und in meinem Umfeld versteht niemand, warum dieser Krieg überhaupt stattfindet. Das ist alles unbegreiflich. Und viele Menschen haben zu viel Angst, um öffentlich ihre Meinung zu sagen. 

Interviews mit dem Queerbeauftragten der Bundesregierung Sven Lehmann

Für die aktuellen L-Mag (März/April) und die Printausgabe der Siegessäule (März) habe ich mit Sven Lehmann (Die Grünen) über die Aufgaben seines Amtes, mögliche Herausforderungen in der kommenden Legislaturperiode und die Frage gesprochen, warum ein weißer cis-Mann in das Amt berufen wurde.

„Debatten gegen das Selbstbestimmungsgesetz sind antifeministisch“ – Nyke Slawik & Tessa Ganserer im Interview

Die Grünen-Politikerinnen Nyke Slawik und Tessa Ganserer sind die ersten öffentlich trans geschlechtlich geouteten Frauen im Deutschen Bundestag. Für das Siegessäule Magazin interviewte ich Nyke Slawik und fragte nach, wie sie den Umgang mit ihr als neuer Abgeordneter erlebt und für welche Politik sie sich einsetzen will.

Das Interview mit Tessa Ganserer gibt es in der aktuellen L-Mag.

Das TSG (Transsexuellengesetzt) soll und muss abgeschafft werde. Glauben Sie, dass es einfach wird und die Reform oben auf der Agenda eine Ampel-Koalition steht?

Ich glaube, die Chancen stehen so gut wie noch nie, weil die Fraktion und die Parteien, die vor allem im Bereich Queer-Politik und Selbstbestimmungsrecht am meisten gebremst haben, nicht mehr dabei sind. Das TSG wie es jetzt existiert ist in vielen seinen Formen verfassungswidrig. Bereits zehn Länder in Europa sind den Schritt in Richtung geschlechtlicher Selbstbestimmung gegangen und das ist einfach die Anerkennung, die wir als Politik leisten müssen. Der Tatsache, dass Geschlecht durchaus komplexer und vielfältiger ist als das, was wir traditionell in Geburtsurkunden eingetragen haben, müssen wir endlich Rechnung tragen. 

Wie wollen Sie sich noch als Bundestagsabgeordnete gegen Homo- und Transfeindlichkeit, generell für mehr Gerechtigkeit einsetzen? 

Erst einmal finde ich es sehr wichtig sichtbar zu sein. Ich glaube, es ist ein großes Zeichen an die Community und die Gesellschaft generell, dass jetzt die zwei ersten geouteten  trans* Personen im Bundestag sitzen, dass es außerdem so viele queere Personen wie noch nie mit 22 Abgeordneten im Bundestag gibt. Das ist immer noch verbesserungswürdig, aber es ist ein tolles Zeichen. Unter 16 Jahren CDU-Kanzlerschaft ist viel liegen geblieben. Zum Beispiel die Reformierung des Familienrechts. Familie ist heute vielfältiger als heterosexuelle Ehen. Wir müssen eine Wende machen hin zu der Anerkennung der Regenbogenfamilie und Patchworkfamilien. Es muss möglich sein, als trans* Mann schwanger zu werden und in der Geburtsurkunde als Vater anerkannt zu werden. Gleichzeitig leben wir  in einer Gesellschaft, wo Queerfeindlichkeit auf der Straße und im Internet ein Problem ist. Dagegen müssen wir mit mehr Aufklärungsarbeit herangehen. Wir brauchen ein klares Vorgehen gegen Hass und Gewalt. Wir brauchen auch Sensibilisierung in den Behörden und bei der Polizei. So etwas wie einen Aktionsplan gegen Queerfeindlichkeit ist wichtig. 

Erfahren Sie Transfeindlichkeit von Kolleg*innen? Wie ist der Umgang mit Ihnen im Bundestag?

Als politisch aktiver Mensch ist man es schon gewöhnt gerade im Netz immer wieder zur Zielscheibe von Diffamierung und Hasskommentaren zu werden. Ich fand es natürlich auch sehr verletzend wie die AfD mit dem Thema Selbstbestimmungsrecht in der letzten Legislaturperiode umgegangen ist und sich darüber lustig gemacht hat. Aber von den Grünen, aber auch von anderen Fraktionen habe ich sehr viele positive Rückmeldungen bekommen, viel Unterstützung erfahren. Viele sind froh, dass das Parlament diverser geworden ist. Man sieht, dass der gesellschaftliche Wandel, auch wenn er seine Zeit braucht,  irgendwann in der Herzkammer der Demokratie, im Parlament ankommt.

Sie hatten vorhin erwähnt, dass schon viele Länder das Selbstbestimmungsrecht eingeführt haben. In Großbritannien gab es eine große Debatte um Kathleen Stock, lesbische Philosophieprofessorin und Feministin, die sich gegen das Selbstbestimmunsgrecht ausspricht. Sie wurde in den deutschen Medien lange als Opfer beschrieben, langsam wird das Bild etwas differenzierter dargestellt. Wie positionieren Sie sich bei solchen Auseinandersetzungen?

Einerseits freue ich mich natürlich, dass das Thema Trans und die Diskriminierung die trans* Personen erfahren inzwischen eine größere Aufmerksamkeit erfährt. Die Kehrseite ist, dass auch transfeindliche Debatten viel mehr Aufmerksamkeit bekommen. Mit Leuten, die mit krassen Vorurteilen und Fake News ins Feld ziehen, versuche ich immer möglichst sachlich umzugehen. Wir müssen noch mehr aufklären und Ängste nehmen und verstehen, dass der Stempel “männlich”/“weiblich” der gesamten menschlichen Natur nicht gerecht wird. Denn trans* Personen, intergeschlechtliche und nicht binäre Menschen existieren. Wir sind zwar eine Minderheit, aber wir haben ein Recht darauf anerkannt zu werden. Meiner Meinung nach sind transfeindlichen Debatten, die sich gegen das Selbstbestimmungsrecht stellen, auch zutiefst anti-feministisch. Denn das Ziel des Feminismus muss es doch eigentlich sein, aus einer gesellschaftlichen und staatlichen Kontrolle auszubrechen und Menschen ein weitgehend selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen … und ebenso ein selbstbestimmtes Handeln über ihren Körper. Dabei ist es egal, ob das jetzt das Recht auf Abtreibung ist oder das Recht auf geschlechtliche Selbstbestimmung. Das sind ja die gleichen patriarchalen Strukturen gegen die wir uns wenden. 

Katerstimmung dank Franziska Giffey

Ein Kommentar zur Wahl des Berliner Abgeordnetenhauses am 26. September erschienen im Siegessäule-Magazin. //

Nach dem letzten Wochenende fühlt sich die progressive Berliner*in wie nach einer dieser unangenehmen Partynächte: Es fing richtig gut an mit dem Klimastreik am Freitag und seinen über 100 000 Teilnehmer*innen. Zwischendurch gab es noch mal einen Höhepunkt mit einer grünen Partei bei über 23 Prozent. Der Abend endete dann in einer Ausnüchterungszelle mit der Aussicht auf einen Senat in Deutschlandfarben. Oder würde die konservative SPDlerin Franziska Giffey doch mit den Linken koalieren, wenn sie müsste?

CDU-nahe Slogans

Die SPD gewinnt die Wahlen um das Berliner Abgeordnetenhaus und mit ihr die Spitzenkandidatin Franziska Giffey. Selbige zeichnet sich dadurch aus, dass sie mit CDU-nahen Wahlslogans in das Rennen ging („Ganz sicher Berlin“) und die Stadt an der Spree mit New York in den 80ern zu verwechseln schien. Auch ist Giffeys Vorstellung, wie der Wohnungsnot begegnet werden könnte, eher bei den Konservativen und Liberalen wieder zu finden (bauen, bauen, bauen). Deshalb also die Vermutung, dass sich die ehemalige Familienministerin und Ex-Bürgermeisterin von Neukölln eine Koalition mit der CDU und der FDP wünscht.

Damit entspricht sie nicht den Vorstellungen der links ausgerichteten Berliner SPD. Aber Franziska Giffey will unbedingt regieren, das hat sie bewiesen, indem sie in den letzten Wochen bereits viele Gesetzesvorhaben blockierte, obwohl sie noch keine Stimme im Senat hatte.

Mit der Brückenbauerin Bettina Jarasch hingegen wäre eine Koalition möglich, wenn es dort Einigungen über grüne Themen wie die Mobilitätswende gäbe. Franziska Giffey vertritt auch hier eher die konservative Linie gegen eine autofreie Innenstadt. Sie will hingegen den Nahverkehr ausbauen und mehr Elektrofahrzeuge in die Stadt bringen. Wie das genau funktionieren soll, ist nicht klar.

Enteignen: nicht mit Giffey

Außerdem braucht es eine dritte Partei als Koalitionspartner. Doch Welten trennen die geborene Frankfurterin (an der Oder) von der Linken. Die Partei um den Kultursenator Klaus Lederer unterstützt nicht nur ein strukturpolitisch progressives Berlin im Bereich Kultur. Die Linke steht hinter dem Volksentscheid zur Vergesellschaftung der Deutsche Wohnen und Co., der am Sonntag immerhin eine Mehrheit ergattert hat.

Aber genau an diesem Punkt gibt es eine „rote Linie“ für Franziska Giffey. Da der Volksentscheid nicht bindend ist, wird sie ihn wohl nicht umsetzen. Als Koalitionspartner kämen ihr da die CDU um Kai Wegner, der sich ein Bündnis mit der SPD nach eigenen Worten gut vorstellen kann, und mit der FDP genau richtig.

An diesem Punkt stellt sich nun die Frage, wie eine Berliner Bürgermeisterin Franziska Giffey sich für die Rechte der queeren Community einsetzen will, wo sie gerade mit der CDU auf Bundesebene im Bezug auf die Änderung des „Transsexuellengesetzes“ auf keinen grünen Zweig kam. Die Verhandlungen dazu wurden von der SPD abgebrochen.

Düstere Aussicht für alternative Projekte

Medienwirksam lächelt Giffey zwar gerne mit bekannten Gesichtern aus der Berliner Community in die Kamera, wie zum Beispiel in einem Wahlkampfvideo mit Frank Wilde, Johannes Kram und Stephanie Kuhnen, und auch findet sie es gut, dass es Orte wie das Schwule Museum gibt. Doch lässt es sich darin schlecht wohnen. Dass gerade queere Menschen eher von sozialer Benachteiligung betroffen sind als die heteronormative Mehrheit scheint ihr im Grunde egal zu sein, wenn sie den sozialen Wohnungsmarkt nicht im Blick hat. Queere Infrastrukturen sind noch immer gefährdet, gerade in einer Stadt mit Wohnungsnot. Ideen hatte Franziska Giffey dazu bisher keine.

Im Prinzip ist es recht einfach. Wer in die sehr nahe Zukunft schauen will, sieht sich an, wie Franziska Giffey sich bisher zu links-alternativen queeren Wohnprojekten geäußert hat. Gerade hier aber gäbe es weiterhin viel zu tun, denn auch der bisherige rot-rot-grüne Senat hat Baustellen hinterlassen. Wie bei der Wagenburg Mollies, die noch immer nach einem geeigneten Ort für ihr Projekt sucht und letztes Jahr unter anderem Zuspruch von der Sprecherin für Stadtentwicklung der Linksfraktion im Abgeordnetenhaus, Katalin Gennberg, erhalten hatte.

Passiert ist bisher wenig. Immerhin versucht die Linke, die Wagenplätzen zu legalisieren, um so alternative Lebensformen zu sichern.

Ob das unter einer regierenden Bürgermeisterin Franziska Giffey auch möglich wäre?

„Auch eine alternative Lebensform muss Miete zahlen“ – Franziska Giffey im Interview

Im Rahmen der Wahlen für das Berliner Abgeordnetenhaus und den Bundestag bringt die Siegessäule Interviews mit den Spitzenkandidaten der großen Parteien. Ich sprach mit der SPD-Kandidatin für das Berliner Abgeordnetenhaus über queere Freiräume, steigende Mieten und Liebig 34.//

Frau Giffey, Sie sagen, Berlin sei für Sie “Herzenssache”. Warum?

Weil Berlin mein Zuhause ist. Weil ich Berlinerin bin, auch wenn ich nicht hier geboren bin. Ich möchte, dass sich die Stadt auch in Zukunft gut entwickelt und, dass das, wofür Berlin steht “Freiheit, Toleranz, Weltoffenheit, lebenswerte Stadt” bestehen bleibt. Das zu erhalten, dieses Lebenkönnen wie man will und Liebenkönnen wen man will, das ist für mich Herzenssache.

Ihr Wahl-Slogan “Ganz sicher Berlin” macht es deutlich: Sicherheit ist Ihnen wichtig. Was würden Sie sagen, wer fühlt sich in Berlin nicht sicher? 

Berlins Markenkern ist die Freiheit. Die kann aber nur erhalten bleiben, wenn Menschen sich sicher fühlen. Ich meine damit einen Begriff von Sicherheit, der sehr breit ist. Dazu gehört die soziale Sicherheit. Das ist ja ein Kernanliegen der Sozialdemokratie, dass Menschen zum Beispiel keine Angst haben müssen, ob sie sich ihre Wohnung leisten können. Aber es gehört auch die innere Sicherheit dazu. Also dass Menschen geschützt sind vor Kriminalität, vor Hass, vor Hetze, vor Angriffen gegen ihre Person. Gerade für die LGBTIQ-Community ist das natürlich ein Punkt. Es gibt Orte, wo man sich sehr wohl und sicher und auch zuhause fühlt und Orte, wo es schwieriger ist.

Sie sagen es selbst, die queere Community braucht sichere Orte, sogenannte Safe Spaces. Was planen Sie? Wie möchten Sie die queere Infrastruktur unterstützen, vielleicht auch ausbauen?

Ich hatte vor kurzem mit Margot Schlönske und Juressica Parka ein sehr schönes Insta live-Gespräch. Sie sagten zum Beispiel, der Schöneberger Kiez um den Nollendorf Platz müsste doch eigentlich Weltkulturerbe werden. Und ich fand das einen interessanten Punkt. Sie haben damit ausgedrückt, dass wir hier in Berlin einen ganz besonderen Schatz haben, nämlich die größte queere Community in Europa. Aber die vorhandenen queeren Orte bleiben nicht von allein. Wir müssen darauf achten, dass diese Orte erhalten bleiben können. Gerade jetzt, wo sie besonders durch die Pandemie betroffen sind. Es ist wichtig, wenn wir den Neustart für Berlin denken, für die Berliner Wirtschaft und die Branchen, die besonders von den Folgen der Kontaktbeschränkungen betroffen sind, dass wir das queere Leben mitdenken. Ich finde es gut, dass es Orte gibt wie das schwule Museum. Das sind Anziehungspunkte auch über Berlin hinaus. Auch da sage ich ganz klar, erhalten und entwickeln. Die dezentrale Arbeit der queeren Szene finde ich sehr wichtig.

Es gibt ja alternative Begegnungsorte und Lebensorte, die gefährdet sind, wie die Wagenburg Mollies oder Liebig 34, das mitten in der Pandemie geräumt wurde. War es wirklich notwendig, das in einer Pandemie so hart durchzuziehen? Die Bewohner*innen sagten teilweise im Nachgang, dass sie nicht mehr nur kein Zuhause hatten, sondern deshalb auch nicht in die vorgeschriebene Quarantäne gehen konnten, weil sie bei Freund*innen unterkommen mussten. Passt das denn so zu Berlin als weltoffener, liberaler Stadt?

Also, dass die Liebig 34 jetzt das queere Vorzeigeprojekt der Stadt ist, ist ja eine interessante Sichtweise.

Ja, das ist ein Projekt, das genannt werden kann.

In der Liebig 34 wurde massive, linksradikale Gewalt ausgeübt, gegen Polizistinnen und Polizisten und Sicherheits– und Rettungskräfte. Ich bin immer dafür, dass wir queere Orte und Projekte unterstützen, aber nur dann, wenn sie nicht die Rechte der Anderen verletzten. Die Leute haben Anspruch auf ein Haus erhoben, das ihnen nicht gehört. Auch queere Projekte können sich nicht dadurch rechtfertigen, dass sie einfach in ein Haus gehen und keine Miete bezahlen. Jeder, der in dieser Stadt lebt, muss sich an bestimmte Regeln halten. 

Menschen, die sich in einem queeren oder in einem alternativen Wohnprojekt zusammen finden, machen das ja meistens, weil sie eine alternative Lebensform leben wollen und das so nicht immer und überall möglich ist. Es geht um genau diesen Raum, um diese schützenswerte Infrastruktur.

Auch eine alternative Lebensform muss Miete zahlen. Ganz einfach. Alle Anderen, die in dieser Gesellschaft ordentlich Miete bezahlen, haben dafür kein Verständnis.

Wir brauchen Wohnraum, der bezahlbar ist. Es gibt das Problem der Gentrifizierung in der Stadt. Wie wollen Sie dem begegnen? Wie wollen Sie bezahlbare Wohnungen in die Stadt bringen?

Nicht, indem wir tolerieren, dass Steine vom Dach auf die Polizei geworfen werden! Das ist für mich keine Diskussion mehr über Gentrifizierung, sondern das ist radikale Gewalt, nichts weiter. Richtig ist, dass die Stadt in den letzten 10 Jahren um über 200.000 Menschen gewachsen ist. Sie alle brauchen Wohnraum. Wir werden diese Situation nur entspannen, wenn wir zwei Dinge tun: den Schutz der Mieterinnen und Mieter achten und voran bringen und, wenn wir zum anderen Wohnungen neu bauen, das Angebot vergrößern. Wir müssen klare Regeln für den sozialen Wohnungsbau haben. Es gibt es ja in Berlin das Modell der “Kooperativen Baulandentwicklung”. Das finde ich sehr wichtig. Jeder, der neu baut, ist verpflichtet, auch einen Anteil an bezahlbarem Wohnraum zu schaffen. Er muss auch einen Beitrag zur sozialen Infrastruktur leisten, zum Beispiel zu den Kitaplätzen. Unsere Aufgabe, als Staat, als diejenigen, die dafür sorgen müssen, dass Wohnraum auch bezahlbar bleibt, ist, regulierend einzugreifen. Wenn Menschen Mietwucher betreiben, wenn sie weit über die Mietpreisbremse und den Mietenspiegel hinaus gehen. Dann ist ganz wichtig, klare Kante zu zeigen und auch unfairen Vermietern klipp und klar zu sagen: So geht es nicht. Um das Angebot von Wohnungen zu vergrößern, ist aber der Neubau das Wichtigste. Das will zur Chefinnensache machen.

Mit wem würden Sie gerne diese Ideen durchsetzen? Mit wem würden Sie gerne koalieren?

Wir müssen jetzt erst Mal diese Wahl und das Ergebnis abwarten. Wir haben als SPD ganz klar gesagt, was wir wollen, wofür wir stehen. Wir haben uns auf Schwerpunktthemen fokussiert. Für mich ist entscheidend, mit welchem Partner wir möglichst viele unserer Ziele und unser Programm auch umsetzen können.

Ein wichtiger Punkt in Ihrer Zeit als Familienministerin waren die Verhandlungen zum Transsexuellengesetz (TSG). Die SPD hat sie abgebrochen, weil es keine Einigung mit der CDU gab. Von der Opposition wurde Ihnen zum Teil vorgeworfen, dass Sie den Gesetzesentwurf nicht leidenschaftlich genug eingebracht hätten. Was sagen Sie dazu?

Wir haben ja eine ganz klare Position dazu auch hier in der Berliner SPD. Wir setzen uns dafür ein, dass das TSG abgeschafft und durch ein modernes Recht ersetzt wird. So, dass jeder auch seiner Identität entsprechend leben kann, ohne sich immer wieder rechtfertigen zu müssen und gegängelt zu werden durch Regularien. Als ich als Bundesfamilienministerin begonnen habe, gab es eine sehr enge Zusammenarbeit zwischen mir und Katharina Barley, die auch sehr für den Entwurf gekämpft hat. Wir haben dann aber irgendwann gesagt, wir können jetzt keinen Entwurf durchdrücken, der von der Community nicht als Verbesserung gesehen wird. Deswegen ist es damals nicht zustande gekommen. Wir sind immer wieder an diesen unterschiedlichen Auffassungen mit der Union gescheitert. Auch bei der Reform des Adoptionshilferechts und des Abstammungsrechts und dem Thema der „Mitmutterschaft“ konnte keine Einigung gefunden werden. Es wäre beinahe das neue Adoptionshilfegesetz daran gescheitert. Letztendlich haben wir die Beratungspflicht für lesbische Mütter und Paare abschaffen können. Ich habe als Familienministerin immer einen sehr breit gefassten Familienbegriff vertreten. Familie ist überall dort, wo sich Menschen umeinander kümmern. Und wir müssen ermöglichen, dass auch die Regenbogenfamilien die gleichen Rechte und Rahmenbedingungen haben, wie alle anderen Familien auch.

„Es geht um Teilhabe“ – Elena Schmidt im Interview

Mit Elena Schmidt, festem Ensemble Mitglied am Berliner Maxim Gorki Theater, treffe ich mich das erste Mal im Frühjahr 2020 und spreche über künstlerische Arbeit am Theater innerhalb eines patriarchalen, gewinnorientierten Wirtschaftssystem. Im Februar unterzeichnet Elena das Actout_Manifest. Für die queeren Magazine Siegessäule und L-Mag treffen wir uns online wieder und sprechen über die Reaktionen auf die Actout-Kampagne.

Elena, du hast an der Aktion #actout teilgenommen. Was hast du dir davon erhofft?

Aufmerksamkeit, Solidarität, Dialog und aktive Veränderung. Viele Menschen denken, dass bei „uns“ Homosexualität schon längst kein Problem mehr sei. Diese Annahme besteht um so mehr, wenn es um die Kunst-, Film- und Theaterbereiche geht. Es wird angenommen, dass sie „noch freier“ sind als der Rest der Gesellschaft. Quasi die Avantgarde. Leider stimmt das so nicht. Das spüren wir queere Menschen tagtäglich in unserem Berufsleben. Die meisten Institutionen der darstellenden Künste verurteilen Diskriminierungen, während sie strukturell in den Betrieben weiter reproduziert werden. Nach außen hin wird sich also gegen Ungerechtigkeit positioniert, während die Arbeitsrealitäten und Inhalte vom Gegenteil erzählen.

Kannst du Beispiele nennen?

Was die Sichtbarkeit diverser Charaktere anbelangt, ist noch sehr viel zu tun. Es werden hauptsächlich weiße, cis-heteronormative Positionen verhandelt, was eine sehr beschränkte Darstellung unserer Welt ist. Dadurch werden die gewaltvollen Mechanismen unserer Dominanzgesellschaft immer wieder belebt. Und alles außerhalb der Norm Gelebte, spielt entweder gar keine Rolle oder wird extrem stereotypisiert. Zum Beispiel wurde ich an einer Schauspielschule mit der Begründung abgelehnt, zu viel Kraft zu haben und auf einer anderen vier Jahren lang dazu angehalten, an meiner „Weiblichkeit“ zu arbeiten.

Hat sich die Hoffnung erfüllt, Aufmerksamkeit zu erlangen, aktive Veränderung anzustoßen?

Zum Teil ja. Momentan bin ich sehr froh und dankbar für die Aufmerksamkeit, die diese Aktion weltweit erreichen konnte. Es gab aber auch einige sehr ignorante Reaktionen, die sichtbar gemacht haben, dass schlichtweg Bildung fehlt. Es ist schmerzhaft, wenn Unwissenheit in verletzenden und gefährlichen, sogenannten Meinungen mündet. Da ist noch sehr viel zu tun, um in einen wirklich nachhaltigen Dialog zu gelangen.

Die Journalistin Sandra Kegel hat in der FAZ einen Kommentar zu #actout geschrieben und darin kurz gefasst die Notwendigkeit für eine solche Aktion abgesprochen. Es ginge ja nicht um Leben und Tod, sagte sie. Was löst ein solcher Kommentar bei dir aus?

Mich macht das erst mal ziemlich wütend, weil es so ein „What about-ism“ erzeugt. Und ich finde das nicht sonderlich sachdienlich, denn wir sind nicht gleichberechtigt. Ein einfaches Beispiel ist die In-Vitro-Fertilisation, die von den Krankenkassen für queere Paare nicht übernommen wird, hingegen bei heterosexuellen, verheirateten Paaren schon. Darüber müssen wir also nicht streiten. Das ist eine Tatsache. In einem Gespräch dann tatsächlich das Wort „Ideologie“ zu nutzen, während gleichzeitig ein paar Sätze später nach Polen und Russland verwiesen wird, dass dort die wirklichen Feinde sitzen, das halte ich für ein Zeichen, wie gefährlich die Situation für queere Menschen auch bei uns immer noch ist.

Sandra Kegel wurde anschließend auf den virtuellen Jour Fixe „Kultur schafft Demokratie“ der SPD eingeladen. Auf Druck hat man schließlich noch zwei Unterzeichner*innen von #Actout und den Blogger Johannes Kram dazu geladen. Es wurde während der Sendung der queeren Community von Vertreter*inner der SPD vorgeworfen, zu aggressiv zu sein und zu spalten. Hat dich diese Reaktion gewundert?

Dass es so öffentlich passiert, ja. Weil es meiner Meinung nach den Grundwerten einer Sozialdemokratischen Partei zuwider steht. Es wird ja weitergehend auch in der SPD behauptet, dass diese identitätspolitischen Kämpfe die Gesellschaft spalten. Ich frage mich aber, was das für ein Vorwand ist. Denn die Gesellschaft ist gespaltet, weil die Ressourcen und die Zugänge nicht gerecht verteilt werden. Es geht in dieser Debatte um Gerechtigkeit. Dann aber zu sagen, wenn ihr so laut schreit, spaltet ihr die Gesellschaft  ist Tone Policing und führt zu einer Opfer-Täter-Umkehr.

Wie waren die Reaktionen bei deinen nicht queeren Kolleg*innen auf die #Actout-Aktion?

Persönliche, sehr berührende Nachrichten habe ich hauptsächlich von theaternahen, queeren Menschen bekommen, aber kaum von den nicht queeren Kolleg*innen. Vielleicht haben sie den Eindruck, nichts mit dem Thema zu tun zu haben. Meiner Meinung nach gibt es aber keine nicht betroffenen Menschen, wenn es um strukturelle Benachteiligung und Diskriminierung geht. Das ist bei Queerfeindlichkeit eben so wie bei Rassismus, Ageismus, Ableismus, Sexismus, und allen anderen Unterdrückungsmechanismen dieser Gesellschaft. Diejenigen, die das Privileg haben diese Formen von Gewalt nicht gegen sich gerichtet erleben zu müssen, erhalten und stärken somit die Strukturen, solange sie sich nicht informieren und aktiv dagegen positionieren. Es geht bei Marginalisierungsdiskursen nicht nur um Gefühle, die verletzt werden. Es geht auch ganz konkret um wirtschaftliche Faktoren. Um Existenzängste, die sehr real sind. Wenn ich eher die kleineren Rollen bekomme oder auf den kleineren Bühnen spiele, habe ich am Ende weniger Geld, werde eine geringere Rente erhalten. Das bedeutet mehr Sorge um Altersarmut. Es geht also um Teilhabe und Zugänge.

Hast du dem Gorki offiziell gesagt, dass du dich als nicht binär identifizierst? Denn auf der Website wirst du noch als Frau geführt. 

Ich habe es nicht direkt gemacht. Ich hatte viele Gespräche mit einer Person, die Dramaturgie am Haus macht und angenommen, dass es dadurch und durch meine E-Mail-Signatur im Haus ankommen wird. Ich habe damals auch überlegt, soll ich eine große Rundmail schreiben und wollte das aber jeweils persönlich erzählen, wenn ich die Leute treffe. Neulich hatte ich aber einen Termin im Gorki und habe es der Intendantin Shermin Langhoff persönlich gesagt. (Anmerkung: Erst Wochen später wurde Elenas Pronomen auch offiziell auf der Website geändert.)

Wie ist der Umgang mit queeren Schauspieler*innen am Gorki? Hast du das Gefühl, du kannst Rollen frei spielen oder fühlst du dich dort beengt?

Leider habe ich im Laufe meiner Kariere oft ein Arbeitsumfeld kennengelernt, das mich nur im queeren Kontext größere Rollen spielen lässt, wie zum Beispiel während eines queeren Festivals. Ich entsprach schon vor meinem Outing als nicht binäre Person nicht dem cis-normativen Bild einer sogenannten weiblichen Hauptfigur. Das bedeutete dann in vielen Fällen, dass ich männlich gelesene Rollen zu spielen bekam. Allerdings nur für die kleinen Männerrollen, da meine Gendermarkierungen in den Augen der meisten Dramaturg*innen und Regisseur*innen auch wiederum nicht männlich genug waren. Ich konnte zum Beispiel nie einen Familienvater spielen. Aber ich finde es wichtig, den klassischen Hauptfiguren, die in unserer Gesellschaft schon lange existierende Diversität zu verleihen. Eine Julia kann von einer Transperson gespielt werden, ohne das wir es kommentieren oder erklären müssen. Dazu braucht es weder ein „erleichterndes“ Augenzwinkern, noch eine Reduktion auf die üblichen Stigmatisierungen von queeren Geschichten. Ich bin mir sicher, das Publikum und wir als Gesellschaft sind inzwischen bereit dafür.

Demokratie in der Krise? Wie wir aus der Krise lernen und Demokratie stärken können

Wie die europäischen Demokratien auf die Corona-Krise reagieren und was sie daraus lernen können, habe ich mit einer Gruppe Erasmus-Student*Innen der Technischen Universität Berlin Anfang April diskutiert. Wie viel Staat ist in dieser Pandemie notwendig und wie können die Einschränkungen einiger Grundrechte demokratisch legitimiert werden?

“Ich habe mich um die Gesetze nicht gekümmert. Ich hab auch nicht erst ’nen Juristen gefragt, ob ich das darf. Oder ob ich das nicht darf. Ich habe das Grundgesetz nicht angeguckt in jenen Tagen.” 

Diese Worte stammen von Helmut Schmidt, einem der beliebtesten Bundeskanzler des Landes. Er beschreibt in dem Zitat wie er auf die Hamburger Sturmflut von 1962 als Senator der Polizeibehörde reagierte. Schmidt galt vielen fortan als Macher, als Mann, der in der Not nicht lange zaudert, sondern zupackt. Interessanterweise setzte sich Schmidt, der 2015 im Alter von 96 Jahren starb, damals aber nicht über Gesetze hinweg, wie es von ihm später gerne signalisiert wurde. Er folgte wissentlich einer gängigen Praxis, die seit 1958 in Form einer Dienstvorschrift festgehalten worden war: Die Bundeswehr durfte bei Sturmfluten und Waldbränden um Hilfe gebeten und eingesetzt werden. 

Krisen brauchen einen handlungsfähigen Staat im Rahmen einer gefestigten Demokratie. Nur der Staat kann schnell effektive Maßnahmen ergreifen, die auch gesellschaftlich legitimiert sind. Schuldenfinanzierte Investitionsprogramme kann nur ein Staat initiieren, ebenso kann auch nur er für Lohnausgleichszahlungen sorgen oder das Schließen von öffentlichen Einrichtungen veranlassen. Dennoch würde es das Vertrauen und Wissen in politische Prozesse und Entscheidungen stärken, wenn demokratische Regierungen ihren Bürger*Innen mehr abverlangten und ihnen nicht nur mehr Handlungsmöglichkeiten zutrauten sondern sie auch erwarteten.

Die europäischen Länder handeln seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie im Februar in unterschiedlichem Tempo und mit teilweise unterschiedlichen Maßnahmen. Während Schweden lange auf vertrauensvolles Handeln der Bürger*Innen setzte, verordnete die französische Regierung restriktive Ausgangssperren. 

Aus Schweden, Norwegen, Polen, Ungarn und Frankreich stammen die Erasmus-Student*Innen meines Deutschkurses, den ich an der Technischen Universität Berlin als Vorbereitungskurs vor dem Start des Sommersemesters für vier Wochen unterrichtet habe. Während die erste Woche als klassischer Präsenzkurs an der Uni stattfand, wurde der Unterricht ab dem 16. März online geführt. Unsere Gespräche drehten sich in dieser Zeit regelmäßig um die Corona-Krise und ihre Auswirkungen auf die demokratische Gesellschaftsordnung.

Wie viel Verantwortung wird den Bürger*Innen in dieser Krise zugestanden?

In Norwegen hatte die Regierung mithilfe eines “Korona Act” die Möglichkeit, im Alleingang ohne die Zustimmung des Parlaments einholen zu müssen, angemessene Maßnahmen zur Pandemie-Bekämpfung zu ergreifen. Dabei müssen diese Maßnahmen allerdings zeitlich begrenzt sein und diese Ausnahmeregelung galt nur für einen Monat. “Weil die Maßnahmen wirken, sind sie erst mal gut,” war sich Sofie aus Oslo deshalb relativ sicher. Zur Sicherheit aber schiebt sie hinterher: “Man sollte auf jeden Fall keine dauerhaften Veränderungen beschließen und generell vorsichtig sein.”

Schwedinnen und Schweden durften längere Zeit weitgehend eigenverantwortlich entscheiden, wie sie in der aktuellen Situation handeln. Viele arbeiteten von Zuhause aus, dennoch waren Restaurants und Geschäfte weiterhin unter bestimmten Auflagen geöffnet. Sofia, Studentin aus Lund glaubte dennoch: “Ich denke, dass die Regierung trotzdem eine große Verantwortung hat, auch wenn sie die Bürger alleine entscheiden lässt”. Auch ist sie sich sicher, dass Krisen wie diese eigentlich zu groß seien, um sie gesellschaftlich breit zu diskutieren. “Ich denke, dass die Entscheidungen den Expert*Innen überlassen werden müssen.”

Ihre Kommilitonin Océane aus Frankreich sitzt zum Zeitpunkt unseres Gesprächs seit fast drei Wochen Zuhause bei ihren Eltern. Sie ist nach der Schließung der Berliner Universitäten direkt nach Frankreich zurück gekehrt. Eines Tages schreibt sie, dass sie zu spät zur Videokonferenz des Deutschunterrichts kommen würde, weil sie vor dem Supermarkt Schlange steht. In Frankreich herrschte da bereits eine “strikte, sanktionsbewehrte Ausgangssperre”, wie es das Auswärtige Amt beschreibt. (Diese Ausgangssperre wird erst am 11. Mai etwas gelockert.)  

“Ich habe seit zwei Wochen kaum das Haus verlassen,“ erzählt Océane. Wenn sie raus geht, muss sie entweder digital oder auf Papier eine Bescheinigung der französischen Behörden mitführen. Dort trägt man ein, wann man das Haus zu welchem Zweck verlässt. Océane glaubt dennoch, dass die Regierung alles tue, um die Ausgangssperre zu beenden. “Die Reise- und Bewegungsfreiheit ist für mich sehr wichtig und ich vermisse sie aktuell am meisten,” gibt die Studentin dennoch zu. Solène, ihrer französische Kommilitonin, die in Berlin geblieben ist, ergänzt nachdenklich:

“Wir brauchen spezifische Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie. Aber wir brauchen auch Institutionen, die das kontrollieren.”

Torill aus Norwegen sieht die Unterschiede zwischen den Maßnahmen in Frankreich, Spanien oder Italien und denen in Skandinavien und Deutschland skeptisch. Sie findet nicht, dass in ihrem Heimatland die Einschränkungen zu weit gehen. Aber sie glaubt, dass die Ausgangssperren in Südeuropa schwierig sind. Ihre Kommilitonin Alina aus Polen ist teilweise entsetzt über die Restriktionen in ihrer Heimat. Unter 18-Jährigen war es dort für einige Wochen verboten, ohne Erwachsene das Haus zu verlassen. Später wurde es auf Kinder unter 13 Jahren beschränkt. “Das ist nicht demokratisch! Und wir haben schon so viele Einschränkungen und bisher noch relativ wenige Fälle,” ergänzte die Studentin Anfang April.

Seit sich Victor Orbán, der ungarische Ministerpräsident mithilfe der verfassungsgebenden Zweidrittelmehrheit seiner Partei über Nacht selbst ermächtigt hat, ist es mit der ungarischen Demokratie nicht mehr weit her. Während die europäischen Medien die Machterweiterung Orbáns zu Beginn heftig kritisierten, wurden im Land teilweise die Maßnahmen als nicht sonderlich einschneidend wahrgenommen, berichtet Zsófia Studentin aus Budapest. “Ich habe Zuhause angerufen und gefragt, was da los sei. Und niemand wusste, wovon ich sprach.” Nach einer repräsentativen Umfrage Ende März seien zudem 78% der Befragten zufrieden mit der Regierung, berichtet sie weiter. Wie frei allerdings Medien in Ungarn berichten können, ist eine andere Frage.

Brauchen Krisen dieses Ausmaßes einen starken, durchgreifenden Staat?

Schmidts Selbstbild des rebellischen Krisenmanagers, das ihm später maßgeblich zur Kanzlerkandidatur verhalf, zeigt in erster Linie, was Politiker glauben in Krisen bieten zu müssen: Handlungsstärke und Durchsetzungsvermögen. Die Vorstellung des starken Staates bzw. der starken, staatlichen Akteure ist alt. Zum ersten Mal tauchte sie als moderne politische Theorie in Hobbes’ “Leviathan” auf und wird heute wieder diskutiert. Darin ist Leviathan der Souverän, dem die Bürger*Innen Handlungskompetenzen übergeben, damit dieser für Frieden und Sicherheit sorgt. Hobbes’ Vertragstheorie zählt nicht zu den Demokratietheorien. Er entwirft in seiner Schrift das Bild eines autoritären Staates, der mittels Schrecken alle Bürger*Innen zur Einhaltung des Vertrages zwingen kann. In diesem Staat gibt es keinen Anspruch auf Grundrechte wie Meinungs- oder Religionsfreiheit, es gibt keine Minderheitenrechte.

In diesem Sinne hat sich Ungarn in den letzten zehn Jahren zu einem handlungsmächtigen und autoritären Staatsapparat entwickelt, der für vermeintliche Sicherheit sorgt, ohne dabei auf Menschen – und Bürgerrechte zu achten. Mit der aktuellen Corona-Krise ist der Ministerpräsident lediglich den letzten Schritt hin zu einem überwachenden und angeblich schützenden Staat gegangen. Sicherheit steht hier klar über der Freiheit des Einzelnen.

Die meisten Student*Innen zeichnen sich durch das Vertrauen zu ihren Regierungen aus. Sie glauben, dass die Administrationen das Wohl der Bevölkerung im Blick haben. Manche von ihnen sehen die Komplexität der Situation und sind sich nicht sicher, ob die Bürger*Innen alleine verantwortlich handeln können und sollen, wenn der Schutz aller auf dem Spiel steht. 

Brauchen Krisen dieses Ausmaßes also einen Souverän der “durchgreift”? Verlangen wir insgeheim nach dem “Vater in der Not”, wie Markus Söder in einem Spiegel-Interview im März behauptete?  Vermutlich sehen sich weder die Bürger*Innen dieses noch irgendeines anderen europäischen Staates als Kinder. Die meisten Menschen verstehen sich wohl vielmehr als handlungsfähige und mündige Teilhaber einer Demokratie. Mit Blick auf die Student*Innen scheint es auch ein hohes Maß an Vertrauen in demokratischen Strukturen zu geben. Und Demokratie kann mehr. Sie kann auf das Wissen und die Ideen Vieler setzten. Sie kann durch Krisen wachsen und legitimiert sich dadurch. Ihre Stärke ist die Vielfältigkeit und ihre Lernfähigkeit. Was also sollte die Demokratie jetzt in dieser Krise lernen?

Wie technologische Fortschritte demokratische Prozesse erleichterten könnten

Was wäre, wenn notwendige Maßnahmen innerhalb einer Krisensituation dank technologischer Fortschritte digital schnell und unbürokratisch, aber im Einklang mit den Bürger*Innen beschlossen würden? Wenn Bürgerräte als Institution ausgebaut würden, die in kürzester Zeit online zusammenkommen könnten? Dort müssten sie wichtige Informationen von Expert*Innen und Wissenschaftler*Innen erhalten, um dann in einem engen Zeitrahmen über eventuelle Veränderungen zu diskutieren und abzustimmen. Diese Änderungen sollten anschließend an den*die zuständigen Minister*in gehen, der*die sich ihrer annehmen muss. In den Kabinettssitzungen, müssten diese Bürgerentscheide in die Entscheidungsfindung einbezogen werden. So könnten die Bürger*Innen auch in Krisen mitbestimmen und beispielsweise über die Einschränkungen ihrer Freiheiten diskutieren. Dass diese Einschränkungen zeitlich begrenzt wären, davon könnte man dann mit großer Sicherheit ausgehen. 

Mit der Pandemie macht die Digitalisierung vielleicht einen wichtigen (und längst überfälligen) Schritt nach vorn in Deutschland. Schon jetzt ist es möglich, sich nicht nur virtuell zu treffen, zu diskutieren und Entscheidungen zu fällen. Online wird bereits zu Demonstrationen aufgerufen, Petitionen erstellt, Widerstand geprobt. Das bürgerliche Engagement ist gerade jetzt hellwach. Am 8. April hat man unter dem Hashtag “unteilbar” mithilfe von “unitedwestream”, über die Möglichkeiten gesprochen, wie Widerstand und Engagement gegen die europäischen Grenz- und Geflüchtetenpolitik während des Lockdowns aussehen kann. 

Wie sich die Gesellschaften mit der kommenden wirtschaftlichen Rezession und den Folgen des Klimawandels auseinandersetzen, ist eine Frage der Zukunft, die wir jetzt stellen und gemeinsam diskutieren müssen.

Denn die Herausforderungen enden nicht mit der Corona-Pandemie, die uns zudem noch viele Monate begleiten wird. Neue Technologien werden bei der Lösung kommender Probleme Schlüsselfaktoren sein. Und in anderen europäischen Ländern geht es im digitalen Bereich oft fortschrittlicher zu als in Deutschland. Wie wichtig das in der aktuellen Krise ist, haben die Student*Innen aus Skandinavien erlebt.

In Schweden konnte ohne größere Schwierigkeiten auf digitales Lernen an den Unis und an den Schulen umgestellt werden. In Deutschland hingegen wurde wochenlang darüber diskutierte, ob und wie ein Online-Semester ablaufen könnte.

Helmut Schmidt war übrigens weder der erste noch der einzige handelnde Akteur während der Hamburger Sturmflut. Schmidt habe in die Hand genommen, was er vorgefunden habe und “sich an die Spitze derer gestellt, die schon da waren,” berichtete der Historiker Helmut Stubbe da Luz in einem ZEIT-Interview. Krisensituationen werden gemeistert, wenn sie auf ein Handlungsgeflecht Vieler treffen, in dem am besten zuvor festgelegt und demokratisch legitimiert wird, was zu tun ist. Und gemeinsam können dann alle anpacken.

Herzlichen Dank an die Studentinnen des Deutschkurses der ZEMS Technische Universität Berlin: Alina aus Polen, Sofia aus Schweden, Sofie und Torill aus Norwegen, Solène und Océane aus Frankreich, Zsófia aus Ungarn