Ich schreibe Spinnenfäden

Das Online-Magazin zartehorizontale.art hatte zu verschiedenen Schreibprojekten aufgerufen. In der Rubrik „Wiederholungen“ wurde Ende April das folgende Essay zum Thema der weiblichen Wut, Fragen der generationalen Traumata und der Vererbung von Frauenbildern veröffentlicht.//

Die Wiederholung endet mit mir. Ich verweigere mich der nächsten Runde. Ich durchbreche den Kreis.

Zumindest nehme ich mir das fest vor.

Meine Großmutter, meine Mutter und mich verbindet das “Frauenleiden”. Uns verbindet der Schmerz und das Wachstum von Zysten, Myomen, Endometriose, Krebszellen. Ich bin die dritte Generation und mit mir endet es. Nach mir kommt keine mehr.

Ich will auch glauben, dass uns die Wut verbindet. Die Wut, gefallen zu müssen. Die Wut darüber gefallen zu wollen. Und die Wut nie wütend sein zu dürfen und es dann irgendwann zu verlernen. Die Wut kommt oft nur noch in kleinen selbstzerstörerischen Dosen oder sie wird passiv-aggressiv wie mit winzigen Pfeilspitzen ausgesendet. Das ist die einzige Wut, die uns geblieben ist. Eine Wut, die sich festsetzt und mit jeder Generation neue Blüten treibt. 

Denn unser Körper ist klug, vergisst nicht und er trägt das Wissen weiter. Er ist wie eine Wurzel. Die nächste Generation übernimmt die Ableger, pflanzt sie neu. “Reliving the cycles”, heißt das in der Psychotherapie. Wir wiederholen, was wir kennen und wir wiederholen diese Muster, in der Hoffnung zu reparieren, was kaputt gegangen ist. Wir wiederholen alte Muster, um es besser zu machen. Wir gehen wieder und wieder dorthin, wo es weh tut. Jede*r von uns ist die Zunge, die sich an den entzündeten Zahn heran tastet und fühlt, ob der Schmerz noch da ist. Er ist noch da, der Schmerz und er bleibt, wenn wir ihn nicht verstehen lernen.

Wer war meine Urgroßmutter, bei der die Wut begann? Oder bei der sie eine so omnipräsente Begleiterin wurde, dass wir Nachkommende diese Wut weiter getragen haben. Als ich in der Therapie das erste Mal über meine Urgroßmutter spreche, lache ich ein bisschen über die Frau, die ich nur hochbetagt, allein am Küchenfenster sitzend kenne, mit einer hervor geschobenen Unterlippe. Beleidigt, nie zufrieden, nörgelnd und immer, immer fordernd. Und je mehr sie forderte, desto stärker zogen wir uns zurück. Warum konnte meine Urgroßmutter der Tochter, ihrem einzigen Kind, mit dem sie früher ein enges Verhältnis hatte, etwas nicht verzeihen, wofür diese nichts konnte? Immerhin verbrachten beide Frauen ihr Leben gemeinsam in einem Haus, hatten bis in die 60er Jahre hinein wilde Silverster-Sausen und lachten strahlend aus alten Schwarz-weiß Fotos heraus. Meine Therapeutin hingegen lachte nicht. Sie sagte ernst, dass niemand meine Urgroßmutter wirklich gesehen hätte. Dass sie keinen Platz bekommen hätte.

Vielmehr wurde ihr ein Platz im Unsichtbaren, Stillen zugewiesen, dort wo Frauen in den letzten Jahrhunderten normalerweise saßen. Diese Frau, die im Alter als Tyrannin das Leben der eigenen Tochter schwer machte, hatte keinen Platz in dieser Welt. Oder vielmehr hatte sie nicht den Platz bekommen, den sie wollte. Ich weiß nicht, ob man deshalb verzeihen kann, was sie getan hat. Dem eigenen Kind die Liebe zu entziehen, ist furchtbar. Die berechtigte Wut, die sie hatte, richtete sich gegen die falsche Person und pflanzte sich dort fort.

Meine Urgroßmutter wurde Anfang des 20. Jahrhunderts in einem thüringischen Dorf als älteste Tochter geboren. Ein Silvesterkind war sie, stur wie ihr Vater, mit einem ähnlichen Temperament, heißt es. Er war Dorfschmied, stolzes Mitglied im Schützenverein und später ein überzeugter Nazi. Ich weiß nicht, welche Träume meine Urgroßmutter hatte oder ob sie sich mehr erhoffte als ein Leben, das die Ahninnen vor ihr genauso gelebt hatten. Ob sie gerne mehr gesehen hätte. Ich weiß nicht, ob sie wirklich im 5. Monat schwanger den Vater meiner Großmutter heiraten wollte, der später nicht aus dem Krieg zurückkommen sollte und mit dessen Eltern sie daraufhin zusammen leben würde. Sie hatte Spaß am Feiern und an Festen. Davon zeugen alte Fotos im Familienalbum, leicht verschwommen. Ich glaube, es gab eine Zeit, in der sie laut lachte. Doch als das Haus nach dem Tod der Schwiegereltern direkt an ihre Tochter ging und nicht an sie, war der Spaß vorbei. Meine Urgroßmutter war nicht gesehen worden. Ihr Ehemann lag irgendwo begraben im tschechischen Boden und der Besitz ging an die nächste Generation, an ihre eigene Tochter.

In der Medizin wird die Wunde als Trauma bezeichnet. Die Wunde, die offen ist, (noch) nicht verheilt, vielleicht notdürftig irgendwie zugepflastert. Auf die seelische Wunde, also eine Trauma-Erfahrung reagiert unser Nervensystem mit den folgenden Strategien: fight, flight, freeze, fawn. Die vier “F”s – im Deutschen würde man übersetzen: kämpfen, fliehen, sich tot stellen und “katzbuckeln”, also alles tun, um dem, was da Gefahr bedeutet zu gefallen und somit nicht unter die Räder zu kommen. Und das unverarbeitete Trauma frisst sich in den Körper, während man sich gefällig macht, zeigt sich darin, wie wir atmen, mit wem wir in Augenkontakt treten (können), wie wir unseren Körper halten. Alles punktuelle, instinktive Handlungen, die noch stärker werden, wenn wir sie von den Eltern oder von den Großeltern erlernen, wenn wir sie adaptieren. Die Wut, die wir nicht zeigen dürfen. Die Wut, die wir nicht haben dürfen. Inzwischen hat es sich manifestiert zu einer Angst davor, wütend zu sein. Wir wiederholen uns. Ständig. Wir sollten zumindest wissen, warum wir das tun.

Auf keinen Fall der Ossi sein und damit war ich eindeutig als Ossi in der süddeutschen Kleinstadt erkennbar. Mit komischen Klamotten und einem ebenso seltsamen Dialekt ragte Anfang der Neunziger unsere Familie aus der schwäbischen, und durchaus wohlwollenden Gemeinschaft heraus wie ein gelber, alter Zahn in einem sonst weiß gebleichten, scheinbar gesunden Gebiss. Keine Aufmerksamkeit erregen, lieber unauffällig bleiben. Während ich das schreibe, pocht mein Herz sehr schnell.

Es dauerte Jahrzehnte bis ich begriff, dass ich nicht sein konnte, was die anderen waren, denn ich bin ja ich. Aber wir wollen dazu gehören, so unbedingt ein Teil von allem sein, auch wenn das heißt, bestimmte, eigene Anteile zu verstecken. Die dann im Dunkeln umso stärker leuchten.

Es gibt Dinge, über die wir in der Familie nicht sprechen. Jede Familie hat diese blinden Flecken, die gerade dann auffallen, wenn wir sie nicht anschauen. Nicht sprechen, dafür schreiben, das funktioniert. Als Kind bin ich angeblich schon morgens aus dem Zimmer marschiert, mit einem Block und einem Stift in der Hand und habe mich damit an den Frühstückstisch gesetzt. Keine Ahnung, ob ich wirklich irgendwas geschrieben habe. Viel später, eigentlich erst jetzt wird mir klar, dass dieser Stift und das Papier meine Rettungsanker waren. Intuitiv hielt ich mich an etwas fest, das mir eine Stimme geben würde. Sicher und zuverlässig. Ich würde mich auf dem Papier Dinge trauen, die ich sonst nie aussprechen hätte können. Ich kann auf dem Papier so wütend werden, wie ich es im Sprechen mit Menschen, die ich liebe, kaum sein kann. Über Generationen haben wir die Wut so gut trainiert, dass sie heute bei mir gezähmt, zu einem ängstlichen Katzenbaby wird, das nur noch gestreichelt werden will. Es ist, als ob die Wut weg sei.

Die Therapeutin sagt, dass sie das nicht verstehe. Dass die Wut einfach weg sei. Wohin sie denn gehe, fragt sie. Warum ich in bestimmten Situationen nicht wütend werde, fragt sie mich selbst fast wütend. Ich muss lange, viele Wochen darüber nachdenken, spreche mit meinem Partner, meiner engsten Freundin. Irgendwann begreife ich, dass ich Angst davor habe, wütend zu sein, weil sich das nicht “gehört”. Weil ich dann ausgeschlossen und womöglich entsetzt angeschaut werde. Also versteckt sich die Wut und kommt nur dann heraus, wenn ich sie nicht kontrollieren kann. Wenn ich träume.

 Bis vor wenigen Jahren hatte ich einen Traum, der sich häufig wiederholte. In diesen Träumen kann ich nicht aufhören, zu schreien. Da gibt es sie dann, diese einmalige Wut, die alles zerfrisst und kaputt macht, eine schmerzhafte Wut, eine, die lähmt und nicht weiter trägt. Es ist eine Wut, die zerstört, die tief aus dem Bauch kommt, aus den Eingeweiden heraus und wie ein heiser, unverzeihlicher Schrei ist, eine Wut, die so laut brüllt, dass ich mir die Ohren zuhalten will: How fucking dare you? 

Indeed. How fucking dare I? Wie konnte ich es zulassen? Wie konnte ich mir eine der wichtigsten Emotionen absprechen, mehr noch, mich selbst belügen? Wie oft habe ich gesagt, dass alles okay ist, obwohl es Zeit gewesen wäre “Stopp” zu sagen? Wie konnte ich die Wut, die ich bei allen anderen akzeptiert habe, für mich nicht anerkennen? Wie konnte ich mich selbst so wenig respektieren?

Welche Wut hat meine Urgroßmutter angetrieben? Woher kam ihre Wut, die sie, davon bin ich überzeugt, hilflos gegen ihre Tochter richtete, obwohl sie dort gar nicht hingehörte? War es allein das Übergangen-werden? Oder auch das permanente Begrenzt-werden? War es die Wut aller Frauen zuvor, die sich in ihrem Temperament manifestierte?

Ich erinnere mich an die Küche meiner Oma, die nur ein Stockwerk über jener meiner Urgroßmutter lag. Dort saß ich manchmal mit der Oma und meiner Mutter, wenn wir alle zu Besuch kamen, meistens im Sommer, wenn der Großvater Geburtstag hatte. Wir alle drei halten eine Zigarette in den Händen und rauchen (meine Mutter pafft). Wir lachen und bilden diese unbeschreiblich schöne, warme, zärtliche Einheit. Ich kann ein Band spüren, eine Verbundenheit, die nicht nur auf gemeinsamen Erinnerungen beruht, und darauf, dass wir uns lieben. Sondern darauf, dass wir alle drei Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft sind. Wir alle haben gehört “Benimm dich anständig!” und “Pass auf dich auf!” und “Wenn du heiratest, ist das alles vergessen.” Immer wenn meine Oma lachte, klang das oft wie ein Jauchzen und sie klatschte manchmal dabei in die Hände. Ich liebte das sehr und musste immer mitlachen. Meine Mutter grinste oft kopfschüttelnd und lachte ihr leises Mama-lachen. Ich liebe es, mich im Dialekt zu wälzen, oder besser ihm zuzuhören, diesem Familiensprech, der uns noch näher bringt und den ich eigentlich kaum noch so beherrsche wie meine Mutter und Großmutter. 

Schreiben, wenn das Sprechen nicht funktioniert. Im Schreiben liegt meine Kraft. Bis heute ist es das Schlimmste, nicht die richtigen Worte zu finden. Wenn sie sich verstecken.

Hier beginnt der Schreibprozess. Hier steige ich ein. 

Es ist immer der gleiche Anfang: ein Blatt Papier, ein offenes Schreibdokument, eine weiße Oberfläche im Notizenprogramm des Handys. Ich pirsche mich heran. Angst vor dem weißen, leeren Blatt habe ich keine. Ich werfe Worte und Gedanken hin, kreise mein Gefühl, also mich ein. Wieder und wieder. Manchmal geht das stundenlang, manchmal dauert es Tage oder Wochen. Ich lasse mich inspirieren, schnappe Satzfetzen auf, sehe einen Film oder ein Bild, spreche mit den Liebsten, lese einen Satz, der berührt, was sich tief verborgen versteckt.

Die Inspiration kommt immer von anderen Menschen. Louise Bourgeois und ihre Riesenspinne zum Beispiel. Ich stehe wie gebannt davor und komme nicht los von der Ausstellung im Gropius Bau, irgendwann an einem regnerischen Tag im September. Es ist nicht “Maman”, vor der ich stehe. Diese neun Meter hohe Plastik der französischen Künstlerin, die schon über den gesamten Globus wanderte. Aber diese Spinne hier ist groß genug. Mit ihren drei Metern füllt sie den gesamten Raum aus, unter sich ein Käfig, ausgekleidet mit alten Textilien und einem Stuhl. Die Riesenspinne, diese Urmutter, die beschützt und alles überragt. Wie weit reicht ihr Netzwerk? Mit Spinnenfäden so fein und zart, dass man sie manchmal nur spürt und nicht sieht. Dieses Netz der Ahninnen, aus dem wir niemals herausfallen, das uns aber nicht nur auffangen, sondern auch fesseln kann. Ein Netz, das uns –  wenn es vergiftet ist – ansteckt mit seinem Gift. Intuitiv habe ich mich entschieden, mit dem Schreiben das Netz weiter zu weben. Manchmal hat es lose Enden und manchmal klaffen große Löcher, aber wenn ich die richtigen Worte finde, dann kann ich es in einer Art weiterweben, wie es der Urgoßmutter nie vergönnt war. Ich schreibe weiter, wenn das Sprechen nicht funktioniert, wenn ich den Blickkontakt nicht halten kann, wenn ich mich winde. Ich schreibe und reinige das Urmutter-Spinnennetz, webe es weiter und mache kleine, vorsichtige Schritte auf Spinnenfäden, so fein und zart.

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Verlegen als Selbstermächtigung

In Deutschland erscheinen jährlich über 60.000 Bücher. Doch wer entscheidet, was auf den Büchertischen landet? Zu weiß, zu männlich, zu konservativ seien viele Neuerscheinungen im Mainstream lautet die Antwort manch unabhängiger Kleinverlage. Doch kann ihnen der Aufbruch, die Revolution des Buchmarktes in Zeiten von Pandemie und Papierkrise gelingen? //

Eigentlich habe sie gar keine Lust mehr über ihren Verlag zu reden, sagt Nikola Richter lachend. Sie steht vor dem Haupteingang eines alten Fabrikgebäudes in Neukölln. Mehrere Kreativagenturen und Freischaffende haben sich hier zusammen getan. Richter möchte viel lieber über die Bücher sprechen, die sie in ihrem Ein-Frau-Verlag mikrotext herausbringt. Die mikrotext-Bücher sind klein und kompakt. Bequem passen sie auf eine ausgestreckte Hand und damit in die größeren Jacken- und Manteltaschen. Das Büro von mikrotext liegt im 3. Stock des Gebäudes und geht von einem weiten Flur ab, in dem ein Rennrad steht und Plakate hängen. Im Büro selbst herrscht eine entspannte Arbeitsatmosphäre. Ein Redakteur, mit dem sich die Verlegerin das Zimmer teilt, sitzt in eine Decke eingewickelt am Schreibtisch und tippt in seinen Laptop. Es sieht aus wie in einer WG-Küche. Tee und Kaffee stehen im Regal neben einem Wasserkocher. Es herrscht konzentrierte Fülle auf dem Schreibtisch.

Das Selbstwertgefühl sei wichtig beim Verlegen, erklärt Nikola Richter später auf einem Spaziergang am nahe gelegenen Kanal. Man müsse überzeugt davon sein, dass man zeitlose, gute Titel im Programm habe. Bücher, die es sich lohnt zu lesen. Wie beispielsweise “Die ganze Geschichte” von Abou Saeed, der als Facebook-Literat, syrischen und deutschen Alltag beschreibt und heute in Berlin lebt. Oder Rasha Abbas Kurzgeschichten “Eine Zusammenfassung von allem was war”. Im Februar hatte Sebastian Nübling die Kurzgeschichtensammlung, in der es um die Suche nach Identität und Halt geht, am Gorki Theater inszeniert. 

„Das Selbstwertgefühl ist wichtig beim Verlegen.“

Nikola Richter von mikrotext

Verleger*innen tragen eine große Verantwortung. Was wählen sie aus, was landet irgendwann auf dem (digitalen) Verkaufstisch und was verschwindet in den Schubladen? Welches Buch schafft es vielleicht bis auf die Bühne oder ins Fernsehen? Intuitiv treffe sie die Entscheidungen und das Programm erschließe sich dann im Prinzip rückwirkend, erklärt die Verlegerin von mikrotext. Nikola Richter denkt und spricht schnell. Sie läuft zügig, beobachtet genau, was um sie herum vorgeht. Ideen sprudeln aus ihr heraus, als gäbe es da irgendwo eine unversiegbare Quelle. Ihre verlegten Texte verbinden neue Narrative sowohl inhaltlich als auch ästhetisch. Viele der Arbeiten sind oftmals im Internet entstanden. Was diese Textform häufig von “klassischen” Texten unterscheidet, ist die sogenannte “Ansprachesituation”. Soll heißen, dass die Texte bereits in Dialogen gedacht und auch so geschrieben wurden. So lag der Anfang von mikrotext 2013 auch bei digitalen Originalen. Das öffnete völlig unbekannten Autor*innen die Tür auf den Buchmarkt. Im Internet fallen häufig die klassischen “Gatekeeper” weg. Jede*r kann veröffentlichen, ohne durch Redaktion, Lektorat zu wandern oder von Agenturen vermittelt zu werden. Das hat Vor- und Nachteile, aber unbekannte Autor*innen werden so zumindest nicht sofort aussortiert.

Bei mikrotext pflegt die 46jährige Verlegerin gleichzeitig Kontakte, schaut sich auf dem aktuelle Autor*innenmarkt um, wählt aus und erledigt vom Vertrieb zur Pressearbeit alles selbst. Große Verlage arbeiten häufig mit vielen verschiedenen Abteilungen und mit Agenturen, die neue Autor*innen vorschlagen. Aber die Auswahl ist groß und der Konkurrenzdruck in Zeiten von Papiermangel und Inflation noch härter. Immer schwieriger sei es für Autor*innen abseits des Mainstreams und der bekannten Bestseller-Listen einen Verlag für sich zu finden, heißt es auch in Verlagskreisen hinter vorgehaltener Hand. Wirklich Neues trauen sich aktuell die wenigsten Häuser. Das momentan weltweit größte Verlagshaus ist Penguin Random House und inzwischen für ein Viertel aller Buchpublikationen verantwortlich. Seit der Fusion und Übernahme von Marktanteilen der Verlags- und Mediengruppe Pearson im Jahr 2020 gehört Penguin Random nun mehrheitlich dem deutschen Medienkonzern Bertelsmann. Über 300 Einzelverlage tummeln sich nun weltweit unter dem Dach von Penguin Random House. Das sind völlig andere Größen als bei unabhängigen (Klein-) Verlagen. Es kommt also nicht nur darauf an, was verlegt wird, sondern auch, wer was verlegt. Große Häuser haben mehr Reichweite und agieren international.

Die Arbeit eines Verlags versteht Nikola Richter politisch, denn die Auswahl der Bücher ist eine öffentliche Handlung, die sie angreifbar macht. Und zugleich sei es “Care-Arbeit für den Buchmarkt, um bestimmte Dinge, die nicht sichtbar sind, sichtbar zu machen.” Dabei verselbständige sich ein Verlag auch. Denn die Autor*innen und ihre Werke machten mit ihren Stimmen den Verlag aus, würden ihn als Ganzes ergeben.

Auch Yasemin Altınay hat 2019 mit ihrem Verlag Literarische Diverse politisch gedacht, als sie einen Raum für marginalisierte Stimmen schaffen wollte, die sonst in der breiten Masse des Literaturbetriebs eher untergehen. Im letzten Jahr kam zudem ein erster Lyrikband von Ọlaide Frank heraus, in dem es um die Realitätserfahrungen einer Schwarzen Frau geht. Altınay war 2021 eine der Titelträger*innen der Auszeichnung Kultur- und Kreativpilot*innen. Die Bundesregierung vergibt sie jährlich an Unternehmen der Kultur- und Kreativwirtschaft, um junges und vielseitiges Unternehmertum zu unterstützen. Trotz dieser Unterstützung aber stößt die Verlegerin immer wieder an strukturelle Grenzen, wie sie selbst sagt. Verlagsauslieferer melden sich nicht immer zurück und allein ist der Vertrieb fast nicht zu stemmen. Die Frau, die nichts Geringeres will als die Branche zu revolutionieren, die Verlegen als Selbstermächtigung versteht, muss sich zwischendurch zurückziehen und Kräfte sammeln. Der Kampf gegen das etablierte System ist zehrend. Ihre 1-Zimmer-Wohnung im Osten von Berlin soll ein Rückzugsort sein und war aber in den ersten zwei Jahren seit Verlagsgründung vor allem Redaktionsbüro und Lager gleichzeitig. Die Magazine stapelten sich im schmalen Buchregal neben dem Sofa und Bestellungen packte Yasemin Altınay persönlich ein. Im Frühjahr 2022 ging das nicht mehr. Sie hat Lager und Versand an ein Familienunternehmen abgegeben. Im Sommer redigierte sie die fünfte Ausgabe des Magazins zum Thema “Traum”, dass am 22. August erschienen ist, in einem kleinen Büro. Das hatte sie zusätzlich angemietet, damit die 1-Zimmer-Wohnung wurde wieder zum Rückzugsort werden konnte.

Die Magazine von Literarische Diverse liegen unter anderem im Neuköllner Kultbuchladen Shesaidaus. Hier finden Leser*innen fast alles zu den Themen Gender, Feminismus, Ani-Rassismus und  Anti-Seximus aus der Sicht von Frauen und queeren Autor*innen. Öffnet man die Tür vom wuseligen Kottbusser Damm kommend, tritt man in einen klaren, freundlichen Raum, der gut überschaubar ist. Mit etwas Glück riecht es nach frisch gebackenen Zimtschnecken, die es im hinteren Teil des Ladens zu kaufen gibt, dazu Kaffee oder Tee. Manchmal trifft man auch auf Autor*innen, deren Bücher hier verkauft werden. Man kann dann seine Zimtschnecke neben Carolin Emcke verputzen oder trifft auf Linus Giese, der bis vor kurzem Mitarbeiter von Shesaid war. Es ist vor allem ein relativ junges Publikum, das hier seit Dezember 2020 stöbert. Auch Yasemin Altınay ist darunter, die mit der Besitzerin Emilia von Senger ein paar Worte wechselt. Die beiden kennen sich von früheren Lesungen, deshalb war die Literarische Diverse von Anfang an auf dem Verkaufstisch dabei. Doch nicht nur der Buchladen ist klein. Auch die Auflagen der Literarischen Diverse sind es. Wen also können die Idealist*innen der Buchszene erreichen und was können sie wirklich verändern?

„Es ist auch mein One-Woman-Vorteil, dass ich keinen großen Verlag an der Backe habe. (…) Ich bin flexibler.“

Yasemin Altınay von Literarische Diverse

Emilia von Senger wünscht sich paritätische Verlagsprogramme, wie sie dem ZDF in einem Interview erklärte und dass trans Menschen und Menschen mit Migrationserfahrung ebenfalls in den Verlagen sitzen. Ihren Buchladen sieht sie als eine “Gleichstellung in minimaler Art und Weise von einer extremen Ungerechtigkeit, die in unserer Gesellschaft jeden Tag passiert.” Auch für Yasemin Altınay ist der Verlag Literarische Diverse ein Herzensprojekt, um Autor*innen und Sichtbarkeit zu gewinnen. “Ich bin nicht an das Projekt gegangen mit dem Ziel super bekannt zu werden und daraus Gewinn zu schöpfen,” erklärt sie im Gespräch. Sie überlegt, lässt sich Zeit bei den Antworten und setzt dann nach: “Und es ist auch mein One-Woman-Vorteil, dass ich keinen großen Verlag an der Backe habe und ich meine Ideen erst Mal mit 20 Abteilungen absprechen müsste. Ich bin flexibler und kann spontan entscheiden.” Wenn es also aktuelle Entwicklungen gibt, kann sie direkt darauf reagieren und das Thema der nächsten Magazin-Ausgabe entsprechend anpassen. So kam es zu dem Thema der dritten Ausgabe von Literarische Diverse mit dem Titel “Widerstand”, weil im August 2020 einige Rechtsextreme und Querdenker versuchten den Reichstag zu stürmen. Die Auflage mit 1500 Exemplaren ist bis heute ausverkauft.

2021 wurden knapp 64 000 Bücher in Deutschland verlegt, etwas weniger als im Jahr zuvor. Seit Mai diesen Jahres sinken die Absatzzahlen wegen des Angriffskrieges von Russland auf die Ukraine und den damit verbundenen Lieferengpässen bei Holz, also auch Papier und der steigenden Inflation. Aber die Verkaufszahlen des Internetbuchhandels wachsen seit der Pandemie stetig an. Mehr und mehr Menschen kaufen digital. Für kleine, unabhängige Verlage ist der Verkauf über Online-Shops auf Webseiten und den Sozialen Medien sowie die großen und kleinen Buchmessen besonders wichtig. “Mein Projekt wäre ohne Social Media wahrscheinlich nicht möglich oder es hätte viel länger gedauert mich zu etablieren. Auch finanziell wäre es viel aufwendiger,” ist sich Yasemin Altınay sicher. Am Anfang ist sie noch alleine durch die Stadt gezogen und hat Poster geklebt. Das aber hat sie schnell wieder verworfen. Zu groß war der Aufwand. Auch der Buchladen Shesaid setzte von Anfang an auf die sozialen Medien und hatte schon vor der Eröffnung im Dezember 2020 auf Instagram 20 000 Follower*innen. Nikola Richter ist von jeher in den Sozialen Medien umtriebig und nutzt jede Gelegenheit, um ihren kleinen Verlag vorzustellen. Anfang Juli fand am Wannsee im Literarischen Colloquium eine Freiluftmesse mit 40 Verlagen und vielen Lesungen bei semi-sommerlichen Temperaturen mit Blick auf den Wannsee statt. Es braucht nicht immer die ganz großen Buchmessen, auch lokale Veranstaltungen sind attraktiv,  so scheint es.

Wie wichtig die großen Messen dennoch für Verlage und Autor*innen sind, zeigt die Aufregung immer darüber, wenn die Buchmesse (wieder einmal) abgesagt wird. Denn sie ist der Ort der Vernetzung und der Werbung. Durch ihre Größe und Reichweite hat sie die Macht der Sichtbarkeit. Dadurch tragen die Organisator*innen ein gewisses Maß an Verantwortung. Messen werden häufig von Stadt und Land gefördert. Durch die Pandemie verursachten Ausfälle wurden beispielsweise mithilfe eines Absicherungsprogramms von Bund und Ländern, also von Steuergeldern finanziell aufgefangen. Im Corona-Jahr 2021 gab es deshalb 4 Millionen Euro aus dem Konjunkturprogramm Neustart Kultur. Anfang Februar gab die Leipziger Buchmesse bekannt, dass sie “schweren Herzens” die diesjährige Messe wieder absagen müsse. Grund waren nach eigenen Angaben die vielen vorausgegangenen Stornierungen diverser Aussteller*innen, da es durch die Omikron-Variante des Coronavirus personelle Engpässe gebe. Die Pressesprecherin der Buchmesse Leipzig machte am Telefon etwas angespannt aber bemüht freundlich klar, dass es durch alle Bereiche hindurch Absagen gegeben habe, nicht nur große sondern auch kleine Verlage hätten Abstand von einer Teilnahme genommen. Auffällig war dennoch, dass nach der Stornierung der Holtzbrinck-Gruppe (wozu u.a. die Verlage Rowohlt, Kiwi, S.Fischer gehören) die Messe einen Tag später abgesagt wurde. Nikola Richter erklärt im Deutschlandfunk Kultur dazu, dass kleine Verlage und ihre Autor*innen bei diesen Großkonzepten häufig nicht mitgedacht würden. Sie vermisse kreative Lösungen, den Versuch, sich an die gegebene Situation anzupassen. Kurzerhand organisierte sie einen digitalen Buchmesse-Empfang, den sie über ihren mikrotext-Instagramkanal bewarb. 

Nicht nur die Verlegerin von mikrotext versuchte den Umständen entsprechend zu reagieren. Auch andere kleinere und größere unabhängige Verlage gaben nicht auf und schufen auf dem Werk 2- Gelände in Leipzig Ende März eine alternative Pop up-Messe. Das einstige Industriegelände, das heute zwischen alten Backsteinmauern und auf Kopfsteinpflaster ein Ort für Konzerte und Ausstellungen ist, war der perfekte Platz für ein Treffen aller Buchliebhaber*innen jenseits der typischen Großveranstaltungen. Bunt ging es zu in der umgebauten Halle mit Loft-Flair und die Idealist*innen der Szene zeigten auch hier, dass es Interesse und Ideen für alternative Formen der Bücher und Buchvermarktung gibt. 10 000 Besucher seien da gewesen, erzählen Leif Greinus und Gunnar Cynybulk, die es geschafft hatten, innerhalb kürzester Zeit mit viel Hilfe und Unterstützung das Event auf die Beine zu stellen. Auch das ist ein Akt der Selbstermächtigung zwischen Künstler*innenateliers und Ausstellungshallen. Dass sich Verleger*innen und Autor*innen auch sehr spontan allein organisieren könnten, hat die Szene im Frühjahr zumindest unter Beweis gestellt.

Am Ende sind die Leser*innen ausschlaggebend. Es gilt, deren Lebenswelt abzubilden und neue Debatten anzustimmen und Gedankengebäude zu ermöglichen. Deshalb muss es um die Bücher gehen, wie Nikola Richter sagt. Die kleinen Buchhandlungen fernab der großen Buchhandelsketten leben von und mit den Vorschlägen und Nachfragen der Kundschaft. Häufig gibt es persönliche Beziehungen zwischen Händler*in, Käufer*in und Autor*in. Außerdem stehen die privaten Buchhandlungen oft in engem Kontakt mit den Verlagen und können sich durch die Zusammenarbeit mit Kleinverlagen individuell ausrichten. Der Geist in diesen Buchläden ist persönlich und setzt bewusst inhaltliche Akzente. Der Unterschied zu großen Ketten, die sich meistens in Einkaufsstraßen oder -zentren befinden und sich über zwei, manchmal drei Etagen erstrecken, ist offensichtlich. Wo Ketten auf große Auswahl klassischer Genres wie Krimi, populäre Sachliteratur und Reisebücher setzen, dazu noch die Bestsellerliste des Spiegels abarbeiten, gibt es weniger Fokus auf Nischenthemen und damit kaum Platz für vielfältigere Stimmen. Als Multiplikatoren sind die privaten Buchläden also für kleinere, unabhängige Verlage nicht weg zu denken, garantieren sie doch etwas Vielfalt auf einem von wenigen großen Verlagshäusern bestimmten Markt.

(Eine gekürzte Version der Reportage ist Anfang Oktober im nd erschienen. Darin gab es Fehler, die hier korrigiert wurden. Der Text wurde im Rahmen der Freien Journalistenschule als Abschlussarbeit geschrieben.)

Nicht-Mutterschaft, oder warum ich kein Kind haben werde

Das Essay wurde zuerst in dem Online-Magazin „Zarte Horizontale“ zu dem Themenkomplex „Hinter den Kulissen“ veröffentlicht. Das Magazin ist ein Ort für Zwischenräume, an dem sich Gedanken und Formen frei entfalten können. //

Es ist nicht so, dass ich kein Kind haben will. Es ist nur so, dass ich keins haben werde.

Als ich “Motherhood” von Sheila Heti las, war ich genervt. Ich war genervt von der Protagonistin und ihrer Unschlüssigkeit, ihrem jahrelangen Zaudern. Bei mir war das alles ganz anders, denn ich glaubte zu wissen, was ich wollte: Ich hätte gerne ein Kind gehabt, konnte aber nicht. Ich hatte also nichts mit “Motherhood” zu tun, wo die Protagonistin scheinbar kein Kind wollte, aber dennoch unsicher in ihrer Entscheidung wirkte. Als Endometriose-Patientin war es mir in den letzten fünf Jahren nicht gelungen, schwanger zu werden. Richtig, ich schreibe “gelungen”. Denn ganz gleich, wie oft ich mir sagte, ich könne nichts dafür, blieb immer dieses Gefühl des Versagens. Es legte sich wabernd, neblig um mich und flüsterte: Dir gelingt es nicht. Du schaffst es nicht. Dein Körper ist kaputt. Der kann das nicht.

Ich hatte die leistungsorientierten Maßstäbe unseres Gesellschafts- und Wirtschaftssystem gut verinnerlicht, in mein Körperverständnis übernommen. Die Schuld lag bei mir als Frau. Nach drei Operationen und allen möglichen Tests hatten wir es sogar Schwarz auf Weiß. Das Ergebnis betrachtete ich mit einem Potpourri an Gefühlen, darunter schwang eine gehörige Portion Selbstmitleid mit. Und dann lehnte ich mich zurück. Ich hatte es ja nun schriftlich, ich konnte kein Kind bekommen. 

„Und eine künstliche Befruchtung? Oder Adoption? Ein Pflegekind?“, fragten Menschen, die mich lieben und mir helfen wollten. Tatkräftig brainstormten sie und bemerkten nicht (ich habe es ja selbst kaum erkannt), wie ich mich innerlich aufbäumte. „Eine Adoption ist nicht drin, dafür sind wir zu arm und fast schon zu alt“, murmelte ich ausweichend. Ein Pflegekind könnte ich nie wieder weggeben, wenn ich es einmal aufgenommen hätte. Außerdem wer will permanent das Jugendamt um Erlaubnis bitten, wenn es um Entscheidungen für das Kind geht? Es blieb also die künstliche Befruchtung – kostspielig, klinisch und so alles andere als romantisch. Doch auch daran war nichts Schlimmes. Ich kannte mehrere Freundinnen, die den gleichen Weg gingen, manche zögerlich, andere selbstsicher, aber sie gingen ihn.

Im letzten Winter fuhren wir dann in den Norden, nach Dänemark und heirateten an einem verregneten Dezembertag in einem uralten strahlend gelben Rathaus, obwohl wir das Konstrukt Ehe als ungerecht und überholt empfanden. Aber ich war müde und die Zeit lief uns davon. Verheiratet könnten wir einen Termin für eine künstliche Befruchtung ausmachen.

Die gesetzlichen Krankenkassen zahlen eine künstliche Befruchtung anteilig zu mindestens 50%, teilweise auch mehr. Manche übernehmen sogar die vollen Kosten für bis zu drei Versuchen der In-Vitro-Fertilisation. Meine Betriebskrankenkasse würde 50% von insgesamt zwei Versuchen zahlen. “Vorher müssen Sie aber unbedingt vor den Altar,” drängte die Sachbearbeiterin am Telefon. Und beeilen müsse ich mich. Denn ich würde ab dem Frühjahr zu alt sein. Der Staat unterstützt bei einem Kinderwunsch fast ausschließlich verheiratete, cis heterosexuelle Paare, wenn die Frau unter 40 und der Mann unter 50 Jahre alt ist. Nur sehr wenige Bundesländer fördern inzwischen auch queere Paare. Am weitesten geht dabei Bremen, das diverse und Trans Paare unterstützt, die unverheiratet sind und bei dem zumindest ein:e Partner:in weibliche Geschlechtsorgane hat. Berlin hilft inzwischen lesbischen Paaren finanziell bei der künstlichen Befruchtung. Doch das bleiben Ausnahmen. Das Gesetz “Zur Herbeiführung einer Schwangerschaft”, dass sich auf verheiratete, und heterosexuelle Paare bezieht ist dennoch nicht diskriminierend, wie das Bundessozialgericht erst im November 2021 erneut entschieden hat. Willkommen im 21. Jahrhundert.

Menschen, die also über weniger Geld verfügen und ein Kind haben möchten, werden tendenziell in eine Ehe gezwungen. Wenn sie nicht dem klassischen heteronormativen Bild entsprechen, haben sie fast keine Chance auf finanzielle Hilfe. Untermauert wird das ungerechte Konstrukt noch durch das ‘Ehegattensplitting’, bei dem verheiratete Paare, ob mit oder ohne Kind, bei unterschiedlich hohem Verdienst kräftig Steuern sparen können. Das traditionelle Rollenbild ist so rechtlich zementiert und wird durch ökonomische Realitäten wie Genderpaygaps und patriarchale Karrieremodelle noch untermauert.

Wann immer ich an diese Art Familienkonstrukt denke, wird es sehr eng um meinen Hals. Das alles hat irgendwie nichts mit mir, nichts mit uns zu tun. Oder zumindest wollte ich nicht, dass es etwas mit uns zu tun hat. Irgendwann wurden meine Zweifel dann sehr laut. Ich durfte mich hier nicht durchmogeln. Ich musste ehrlich zu mir sein. Wollte ich wirklich um jeden Preis ein Kind? Denn wenn ich wirklich eins wollte, dann würde ich doch alle Möglichkeiten ausschöpfen und eben keine Zweifel haben, oder? Wir würden uns gemeinsam um das Kleine kümmern, könnten unsere Jobs irgendwie so aufteilen, dass wir nicht das klassische Mama-Papa-Kind-Modell leben würden. 

Beruf und Kind, beides kann man schon irgendwie vereinen, wird uns sehr oft vermittelt. Mehr noch: Das Schreiben und ein Kind und ein Brotberuf dann sicher irgendwie auch. Das machen doch so viele. Ich frage mich dabei aber immer häufiger zu welchem Preis. Es gibt in meinem Umfeld nur sehr, sehr wenige Paare, denen die Gleichstellung von Familie und Beruf wirklich gelingt. In den meisten Konstellationen leistet die Frau deutlich mehr Care-Arbeit, also Sorgearbeit in jeder Hinsicht, während er Karriere macht oder zumindest Vollzeit arbeiten geht. Die Covid-19 Pandemie hat diese Kluft wieder sehr deutlich werden lassen, wo vor allem die Frauen zu Hause das Home-Schooling der Kinder betreuten, den Haushalt irgendwie schmissen und zwischendurch ihren Brotjob im Homeoffice erledigten. 

Wenn man nun neben der Brotarbeit noch irgendeiner anderen kreativen Profession nachgeht, dann wird die Aufteilung wirklich schwierig. Mein Partner und ich sind beide freischaffend. Er ist Musiker, ich schreibe und es gelang in den letzten Jahren gut, uns gemeinsam um unseren alternden, irgendwann sehr kranken Hund zu kümmern. Doch wir haben beide wenig geschlafen, deutlich weniger geschrieben und komponiert. Und wenn ich am Schreibtisch saß, dann immer mit einem schlechten Gewissen. In den letzten Wochen lag ich häufiger neben dem Hundekorb, als ich vor dem Computer saß.

Ich brauchte viele Jahre, um mich überhaupt als Autorin zu verstehen und noch länger, um den Mut aufzubringen, mich als solche zu bezeichnen. Irgendwann habe ich ein Aufbaustudium an der Freien Journalistenschule gemacht, um das Handwerk zu lernen. Alles natürlich neben der Brotarbeit. Dann konnte ich erste Artikel veröffentlichen, die mehr schlecht als recht bezahlt werden. Ich schreibe mittlerweile neben bezahlten Artikeln vor allem Kurzgeschichten und Essays, die größtenteils auf Online-Portalen veröffentlicht werden und ein Tauschgeschäft sind: Du schreibst und wir veröffentlichen, um deine Stimme hörbar zu machen. Das ist ein Anfang, aber nichts, womit ich meine Miete bezahlen könnte. Nur sehr wenige können überhaupt vom freien Schreiben allein leben, sei es als Autor*in oder Journalist*in. Für die Meisten gibt es einen Zweitjob, der manchmal fast ein Vollzeitjob ist. Gelingt es dennoch mit dem Schreiben Geld zu verdienen und zum Beispiel einen entsprechend großen Verlag zu finden, der Texte veröffentlichen will und auch adäquat honorieren kann – fast ein Ding der Unmöglichkeit im hierarchisch aufgebauten und starren Literaturbetrieb – besteht die Arbeit nicht nur aus sorgfältiger Recherche und dem Schreiben. Lesungen und öffentliche Auftritte gehören zu einer Veröffentlichung und sind Teil des Honorars. Wie soll das alles mit einem Kind funktionieren? Ich weiß, es gibt Menschen mit Kindern, denen es gelingt sich im Literaturbetrieb zu etablieren und vor ihnen habe ich den höchsten Respekt. Aber der Gedanke, dass das Schreiben mit einem Kind – nachdem ich so lange gebraucht hatte, es mir zu erarbeiten – wieder wegfallen oder zumindest deutlich weniger werden würde, ist omnipräsent. Und das panische Gefühl, das dabei in mir aufkommt, hat mich lange beschämt.

Obwohl mein Partner und ich die Hochzeit als notwendiges Übel sahen, etwas von staatlicher Seite besiegeln zu lassen, was für uns längst gelebte Wirklichkeit war, geschah etwas Überraschendes nach der Trauung. Ich sah uns jetzt als dieses Paar, das schreibt und komponiert, Musik macht und kreativ arbeitet. Und ich sah kein Kind mehr. Nach vielen Jahren des Grübelns und Planens, der Tests und des Wartens konnte ich es mir eingestehen und es war eine Erleichterung. Ich begann allmählich zu verstehen, dass das, was ich vom Muttersein erwartete, nicht unbedingt mit einem eigenen Kind einher gehen musste.

Alle Geduld, Liebe und Fürsorge darf auch in einen Text fließen – oder zumindest fast alles davon. Ich muss mich nicht schlecht fühlen, weil ich am Schreibtisch sitzen will.  Nur ich konnte diese Entscheidung treffen und das Gefühl der Selbstermächtigung und der Freiheit, das damit einher geht, ist ein großes Glück und vor allem ein großer Luxus. 

Es funktioniert übrigens beides gleichzeitig; die Trauer um ein Kind, das ich nicht haben werde und die Erleichterung darüber, dass ich das Schreiben an erste Stelle setzen kann. Meistens kann ich die Ambivalenz gut aushalten. Nur manchmal noch tappe ich in die Falle der patriarchalen Leistungsgesellschaft und ich fühle mich schlecht, dass der Wunsch nach einem Kind offensichtlich nicht groß genug war. Oder zumindest nicht größer als der Wunsch nach dem Schreiben. Jetzt aber kann ich mich selbst in einen Text bringen. I will write my self, wie Hélène Cixous vor 46 Jahren in “Das Lachen der Medusa” forderte. And surely I will.


Quellen:

The Laugh of the Medusa von Helene Cixous, Keith Cohen und Paula Cohen, 1976 by University of Chicago Press

Taz- Artikel: Babys für alle vom 21.11.21 (https://taz.de/Hilfe-bei-Kinderwunsch-fuer-queere-Paare/!5814327/)

Motherhood. Sheila Heti. Penguin Random House. London 2019

Innenschau nach draußen

Der Ort, an dem wir leben, beeinflusst unser Denken und Fühlen, bestimmt die Perspektive, die wir einnehmen. Für ein Online-Magazin mit dem Schwerpunkt „Housing“ verfolgt das Essay die Frage, wie der Blick aus dem Fenster unser Sein bestimmt und in welcher Form die Malerei und Bildende Kunst sich seit der Renaissance diesem Thema annehmen. //

Ich erinnere mich noch gut an die Bilder im Wohnzimmer meiner Großeltern. Dunkel waren die Kopien aus der Romantik, unmodern und sehr weit weg von meiner Kinderrealität. Die Bilder interessierten mich nicht. Mein Blick ging immer zum Fenster hinaus ins Dorf. Dorthin, wo ich ungestört bis zum Abendessen herumstreunen durfte.

Und bis heute liebe ich es, aus dem Fenster zu schauen. Wenn ich in einem Zimmer stehe, das ich nicht kenne, gehe ich zuerst ans Fenster. Ich schaue hinaus, will sehen, wie und was da draußen ist. Von diesem Draußen kann ich zwar nur einen kleinen Teil erkennen, einen Ausschnitt und dieser Ausschnitt wiederum wird bestimmt von dem Zimmer, in dem ich stehe. Doch dieser Blick ist essentiell. Denn das Innen beeinflusst das Außen und umgekehrt. Dabei stelle ich mir bis heute die Fragen: Wo genau bin ich und wer bin ich an diesem Ort?

Das Innen beeinflusst das Außen

Das Fenster gibt einen klar umrissenen Rahmen, durch den wir Betrachtende nur einen bestimmten Bildausschnitt der Außenwelt sehen. Die Renaissance feierte das Bild selbst als “Fenster zur Welt”  und nutzte das Fenstermotiv als perspektivische Projektion. In der Epoche, in der Wissenschaft und Kunst zusammen das neue Selbstverständnis des Menschen schafften, galt die Geometrie als Basis für die Malerei. Die Zentralperspektive erzeugte mit dem Fluchtpunkt im Bild Tiefe und Proportionen. Gebäude und Fenster wurden in diesen Bildern als Strukturen gesetzt, an denen entlang Maler*innen arbeiteten. 

 Besonders gut ist das bei Leonardo da Vincis Abendmahl zu sehen. Die Tiefe des Bildes wird durch die Perspektive des Fluchtpunktes geschaffen und durch Wandteppiche rechts und links, der Kassettendecke oben und der Fensterfront am Ende des Speisesaals, also hinter Jesus und seinen Jüngern, verstärkt. Doch die Fenster ermöglichen hier schon den Blick ins Freie und Weite.  Die Betrachtenden schauen in das Bild wie in eine offenbarende Welt und hinter dieser Welt liegt mehr, eine hier noch versteckte Weite, die erst 300 Jahre später thematisiert werden sollte.

Leonardo da Vinci, Das letzte Abendmahl, 1494 – 1498

Türen und Fenster als Ausdruck der Kommunikation

Türen und Fenster sind Ausdruck von Kommunikation zwischen Innen und Außen. Sie sind die Öffnung zwischen der Behausung des zivilisierten Menschen zur Außenwelt, eine Art Schwelle. Diese zu übertreten, konnte man entweder sehnsüchtig erwünschen oder aber auch tunlichst vermeiden. Denn das Draußen und Öffentliche galt immer auch als unberechenbar. Vor allem Frauen sollten im privaten Raum leben und wenig in der Öffentlichkeit auftauchen. Im Haus konnten sie schließlich besser “beschützt” und kontrolliert werden als im öffentlichen Raum.

Von Italien aus kam das Fenstermotiv zweihundert Jahre nach der Renaissance in den Niederlanden wieder auf und wurde dort vor allem in der Genre-Malerei verwendet. Stille Figuren beim Handwerk oder in die Betrachtung versunken am Fenster stehend, sind typisch für das 17. Jahrhundert in den Niederlanden. 

In vielen Bildern von Jan Vermeer beispielsweise, in denen es Frauenfiguren gibt, sieht man am linken Bildrand ein Fenster. Hier nutzt sie der Maler vor allem als Lichtquelle, um die Farben und die Stofflichkeit auf dem Bild hervorzuheben. Der Blick der Frauen aber ist oft zum Fenster gewandt. Die Innenansicht der Gemalten wird fast versteckt thematisiert. Ob bei der “Briefleserin am offenen Fenster” oder “Herr und Dame beim Wein”, das Fenster steht hier im engen Zusammenhang mit dem, was in den Figuren vor sich geht: Zögern die Frauen? Träumen sie? Sind sie sehnsüchtig oder ängstlich? Die Wein trinkende Dame, die in Richtung des halb geöffneten Fensters schaut; ob sie die Verführungstaktik des Herrn versteht, der nicht einmal Mantel und Hut ablegt, während er ihr den Wein nachschenkt? Wird sich das Fenster für sie öffnen oder schließen? Oder das junge Mädchen, das am weit geöffneten Fenster einen Liebesbrief liest und mit ihrem Körper zum Fenster gedreht steht. Das Fenster verbildlicht hier die Außenwelt, die Verführung und das Versprechen.

Jan Vermeer, Breifleserin am offenen Fenster, 1675 – 1695
Jan Vermeer, Herr und Dame beim Wein, 1658 – 1660

Fenster werden in der Malerei auch immer wieder als “Orte stummer Monologe und Dialoge, der Reflexion über die eigene Stellung” beschrieben. Wer bin ich? Wer bin ich hier? Es ist der Blick ins Außen, der die Innenschau erst möglich macht. Bis heute wird der Blick vom Fenster aus nach draußen auch als sehnsüchtig beschrieben. Vielleicht hatte der Romantiker Novalis recht, wenn er behauptete, dass alles in der Distanz zu Poesie würde. 

Verändertes künstlerisches Selbstverständnis

Während im 17. Jahrhundert noch der Fokus auf den Figuren und den alltäglichen Szenen liegt, verwandelt sich der Blick in der Romantik und geht durch das Fenster hinaus in die Weite.  Das Fenster liegt jetzt im Zentrum des Bildes. Zum Teil verschwinden die Figuren komplett und gezeigt wird nur noch das Fenster wie bei Caspar David Friedrichs “Blick aus dem Atelier des Künstlers”. Der Raum geistiger Produktion im Inneren mit Blick nach daußen beschreibt auch ein verändertes künstlerisches Selbstverständnis. Das offene Fenster ist hier wieder Symbol für die Kommunikation zwischen innen und außen. Von der Lichtquelle im 17. Jahrhundert wird es in der Romantik immer stärker zur Schleuse von Blicken, Gefühlen und Gedanken.

Caspar David Friedrich, Blick aus dem Atelier des Künstlers, 1805 – 1806

Im 20. Jahrhundert sehen wir dann bei Marcel Duchamps humorvollen Ready-Made “Fresh Widow” von 1920 ins schwarze Nichts. Es gibt keinen Ausblick und auch keinen Durchblick mehr. Es zeigt die postmoderne Leere, die durch die Fülle sämtlicher Möglichkeiten und Veränderungen in unseren Leben herrscht und es thematisiert auch die damit einhergehende Überforderung. Gibt es zu viel Auswahl, habe ich am Ende keine Wahl. Ich verweigere mich ihr. Der Titel “Fresh Widow” – spielt nicht nur mit Worten (von French Window) sondern auch mit den Erwartungen der Rezipienten. Es verweigert jeglichen Ausblick, Weitblick und auch fast jede Kommunikation. 

Leonardo da Vinci feilte in der Renaissance noch jahrelang an der richtigen Perspektive, den detailgetreuen Gesichtsausdrücken und versuchte, nach mathematischen Prinzipien das Abbild der Welt darzustellen. Fünfhundert Jahre später weigern sich die Künstler*innen des 20. Jahrhunderts nun Realität überhaupt abzubilden.  Verständlich, denn wer will schon das Draußen sehen im 20. Jahrhundert? Es zeigte  eine Welt voller Weltkriege, Zerstörung und Massenvernichtungswaffen.

Auch heute im 21. Jahrhundert sehe ich draußen sterbende Bäume, karge Landschaften und die ersten Anzeichen der Klimakatastrophe. Dieser Blick nach draußen macht aus mir eine ängstliche, besorgte Betrachterin. Dann doch lieber die Schotten dicht halten und sich nach innen wenden?

Doch ohne den Blick nach draußen geht es auch nicht, funktioniert schließlich das Innen nicht. Am Ende des Tages muss ich also wieder am Fenster stehen und hinausschauen, um nicht zu vergessen, wer ich bin und vielleicht auch wer ich sein werde. Falls das aber alles zu viel wird, kann man zwischendurch immer noch Duchamps “Fresh Widow” bewundern.

Marcel Duchamp, Fresh Widow, 1920

Sekundärliteratur:

Lorenz Eitner: The Open Window and Storm Tossed Boat. An Essay On The Iconography Of Romanticism. In: The Art Bulletin, Vol. 37, 1955

Thomas de Padova: Alles wird Zahl. Hanser Verlag. München 2021

J.A. Schmoll gen. Eisenwerth: Fensterbilder – Motivketten in der europäischen Malerei. In: Katalog Einblicke – Ausblicke, Recklinghausen 1976

sehpunkte. de/ das Fenstermotiv in der Malerei, zuletzt abgerufen am 17.5.22

Zeitraumzeit.de/ Rezension Fresh Widow: Fensterbilder seit Matisse und Duchamp, zuletzt abgerufen am 17.5.22