Wo das Eismeer verzaubert – Rezension

Das schriftstellerische Debüt der kanadischen Sängerin Tanya Tagaq

Tanya Tagaq erspart ihren Leser*innen nichts und schenkt im Gegenzug einen Einblick in das Dasein und den Überlebenskampf der Inuit im Norden Kanadas. Die teils biografische Geschichte wird zu einer Erzählung über die Schönheit der Mythen und die Stärke der Frau.

„Splitt Tooth“ heißt das Buch im Original, erschienen 2018 bei Penguin, das auf Deutsch den Titel „Eisfuchs“ bekommt. Gewidmet hat Tagaq das Buch den „Überlebenden der Residential Schools“, also jenen Schüler*innen, die getrennt von ihren Eltern der eigenen Kultur entfremdet wurden und die ihre Sprache vergessen mussten, um Englisch und Französisch zu lernen. 

Der erste Abschnitt führt dann auch gleich mitten hinein in einen Abend voller Alkohol und Haltlosigkeit einer Gesellschaft, der Tradition und damit Identität genommen wurde. Die Kinder finden in dieser Erwachsenenwelt keinen Platz und noch weniger Halt, sie haben manchmal einander und verkriechen sich in ihr Versteck.

Tanya Tagaq schreibt in der Ich-Perspektive und beginnt ihre Geschichte mit dem Jahr 1975, das Jahr in dem sie am Rande des Eismeeres in Cambridge Bay, heute Nunavut geboren wurde. Sie ist bisher als Sängerin für den sonst traditionellen Vokalgesangs bekannt, den sie ganz eigen interpretiert und mit viel Poesie verbindet. Diese Poesie findet sich auch in ihrem Schriftstellerinnen-Debüt in Form von Gedichten wieder, die am Anfang eines jeden Kapitels stehen und in der Beschreibung der Natur, die aus Tundra und Eismeer besteht.

Das Eismeer ist die Größe, die die Erzählung zusammen hält. Denn dort auf dem Wasser spielen die Kinder mitunter lebensgefährliche Spiele im Sommer, wenn sie Tag und Nacht quasi autonom draußen verbringen. Während der dunklen Wintermonate hingegen müssen sie in den Häusern ausharren und sind besonders dann den explodierenden Emotionen und dem Missbrauch der Erwachsenen ausgesetzt. Immer versuchen sie sich abzulenken, schnüffeln Klebstoff und sammeln Zigarettenstummel, die sie heimlich in ihren Verstecken rauchen. Es gilt wie auf jedem Schulhof das Gesetz des Stärkeren oder eben auch Cooleren und wer es in diese Kategorien nicht schafft, versucht sich in Unauffälligkeit zu verkriechen. 

Das Buch wird besonders dann stark, wo es in die Mythen der Inuit eintaucht, Raum und Zeit aufbricht und wo sich alte Sagen mit dem modernen Leben vermischen und die Ich-Erzählerin loslässt, aufmacht für das Unausgesprochene. Denn, ihre Vorfahren können ein trauriges Lied davon singen, die größte Pein ist nie die tödliche Gleichgültigkeit der Natur sondern die Gewalt der Menschen, die immerzu missionieren und zerstören.

Wer sich einlassen kann auf diese assoziative Erzählung und mit dem jungen Mädchen hinab gleitet in die Tiefe des Eismeeres, findet dort ein kleines bisschen Magie und Freiheit und das Wissen um die Stärke der Frauen. Denn am Ende ist es ein Buch nicht nur für die Überlebenden sondern auch „für die verschwundenen und ermordeten indigenen Frauen und Mädchen Kanadas“.

Tanya Tagaq „Eisfuchs“ bei Kunstmann für 20,- Euro, 196 Seiten. Erhältlich unter anderem in diesem Kleinod „Zabriskie“ in Berlin-Kreuzberg.

*Die Rezension wurde auch auf soundsandbooks.com veröffentlicht.

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