Wow, what a stinker

Oder wie 2022 das bisher krasseste Jahr des 21. Jahrhunderts war

Es wird heißer in jeder Hinsicht. Aber das betrifft nicht mehr nur Flora und Fauna. Es zündelt auch beim Nachbarn, gerade jetzt wo wir uns mehr schlecht als recht durch die Pandemie gehievt haben und aufatmen wollten. Der Wahnsinn eines kleinen Mannes hält mal wieder die (westliche) Welt in Atem. Aber Wladimir ist kein Einzelgänger und auch nicht im luftleeren Raum entstanden. Die Frage, wie viel wir aus der Geschichte lernen (können), bleibt in der Tat eine Art Dauerklassiker.

Und was machen wir? Wir verdrücken uns.

Schwan aus der Nachbarschaft, der sich verdrückt im Dezember 2022

Ich stehe zwischen Taschen und Klamotten, eine Tüte mit Essen dazwischen. Zur Jahreswende und über die Feiertage fahren wir nicht zur Familie. Wie immer entziehen wir uns dem Weihnachtsfest, verkriechen uns irgendwo und zünden Kerzen in den Rauhnächten an. Ich schreibe Wünsche auf kleine Zettel für das kommende Jahr. Ganz oben wird darin dieses Mal definitiv stehen: Please don’t suck again. 

Im letzten Jahr waren wir in einem kleinen Haus an einem dänischen Fjord. Ich hatte mich auf lange Fjordspaziergänge mit dem Whippet gefreut und die Abende vor dem Ofen geplant. Unser felliges Familienmitglied aber hat sich von besagtem Ofen kaum weg bewegt. Die Spaziergänge also fanden ohne ihn statt. Ich dachte, dass 2022 so eine hübsch gerade Zahl ist, dass alles schon irgendwie gut gehen wird im nächsten Jahr. Ich war kraft meiner Natur sehr optimistisch. Das mag auch an der tief stehenden Sonne gelegen haben, die die norddänische Moorlandschaft immer wieder in faszinierende Farben tauchte. Dieses Licht über dem Wasser, das Orange und Gelb am Nachmittag, es hat mich frohgemut gestimmt. Die Wünsche und Ideen für das neue Jahr waren voller Optimismus und hatten sehr wenig mit dem Weltfrieden zu tun.

Wie immer ist der Januar ein harter Monat. Ich finde, es ist der schlimmste Monat des Jahres, aber 2022 war er besonders dunkel und lang. Wir haben uns trotz größter Zurückhaltung und mehrfacher Impfungen mit Omicron angesteckt und durch die Wochen gefiebert. Dem geliebten, alternden Whippet ging es aufgrund seiner versagenden Nieren und trotz Medikamente und aller möglichen Kräuter, die ich ihm in meiner Verzweiflung gab ebenfalls immer schlechter. Wir wussten, was kommen würde und verdrängten den Gedanken vehement. Denn, wenn man nicht daran denkt, nicht darüber spricht, dann findet es nicht statt, dann ist es nicht real. Oder?

Anfang Februar aber konnten wir die Tatsachen nicht mehr ignorieren. Wir flüsterten, entsetzt und ängstlich. Mitte Februar mussten wir ihn gehen lassen – den besten Hund aller Zeiten. Ich weiß nicht, wann ich, wann wir das letzte Mal so viel weinten. Sein Halsband hängt noch immer im Flur an der Garderobe. Manchmal reden wir noch mit ihm. Ich hoffe, er verzeiht es uns.

Für Tränen gab es in diesem Jahr außerordentlich viele Anlässe. Tränen der Wut, des Entsetzens, der Abscheu aber auch Freudentränen und Tränen der Hoffnung. Korrekt, ich bin nah am Wasser gebaut. Was drin ist, wird garantiert raus gespült. Ich kann dagegen nicht viel machen.

Als ich am 24. Februar sehr verschlafen morgens die entsetzte Nachricht meiner russischen Freundin Zhenya bekam (“Can you fucking believe it??”), starrte ich sehr lange auf den Bildschirm meines Handys. Geschah das wirklich? Es geschah wirklich und wir waren entsetzte Zuschauer*innen eines Angriffskrieges, der Folgen nach sich ziehen wird, die wir noch gar nicht absehen können. Die Hilflosigkeit, die viele spürten, ist nur schwer zu ertragen. Deshalb war der Berliner Hauptbahnhof auch voll von Freiwilligen, die auf die Züge aus Polen warteten, in denen Ukrainer*innen ankamen. 

Nichts tun können, nichts an den Tatsachen ändern zu können, ist das schlimmste aller Gefühle. Hilflos vor der Klimakatastrophe zu stehen. Hilflos auf brutalste Regime wie die Taliban in Afghanistan oder die Mullahs im Iran zu sehen, ist schwer erträglich (und natürlich nicht zu vergleichen mit den Schrecken, den die Zivilbevölkerung in Afghanistan oder Iran ausgesetzt sind.) Irgendwas muss man doch tun können: Also werden Beiträge in den sozialen Medien geteilt, Spenden- und Patenschaftaufrufe gestartet, Demonstrationen geplant, Artikel geschrieben. Und am Ende bleibt man dennoch mit dem Gefühl zurück, zu wenig getan zu haben, zu oft weiter geklickt zu haben, weil die Belastungsgrenze irgendwann erreicht war. Als die ersten Berichte über die Hinrichtungen von iranischen Demonstranten geteilt wurden, war klar, dass es keine Belastungsgrenze geben durfte. Wir müssen hinsehen, wir müssen zeigen, dass wir diese unglaublich tapferen Menschen nicht vergessen. 

Berliner Tiergarten, 22. Oktober 2022

Wenn es sehr schlimm wurde in diesem Jahr, habe ich nach den alten Weisen gesucht. Also Menschen, die sehr vieles irgendwie schon gesehen und erlebt hatten und trotzdem nicht in Zynismus erstickten. Menschen mit Humor. Ich landete bei den großen Ladies: Fred Vargas Krimis von leicht durchgeknallten Typen, die alles andere als erfolgreich waren; Toni Morrisons Essays und Alice Munros Kurzgeschichten. Es gab eine fantastische Ausstellung zu Louise Bourgeois’ Plastiken und Skulpturen, an die ich immer noch denke und die mich tief in die Beziehungsarbeit zur eigenen Familie geschubst hat. 

Gerde aber entdecke ich Margaret Atwoods Essays, nachdem ich ihren Newsletter abonnierte und feststellte, wie klug und scharfzüngig die große kanadische Autorin ist. „Burning Questions“ heißt die aktuelle Sammlung ihrer Essays. Darin schreibt sie unter anderem über das Buch „The Gift“ von Lewis Hyde und sie endet mit dem Satz: „Geschenke transformieren die Seele in einer Art wie es einfache Gegenstände nicht können.“ Auf Deutsch klingt das deutlich kitschiger und sperriger als auf Englisch, aber das ist für einen anderen Text gedacht. 

Ich denke, dass wir vielleicht anfangen sollten, die richtigen Geschenke zu machen. Eben solche Geschenke, die uns berühren, uns verändern: Der eine Anruf, von dem wir glaubten, ihn nie tätigen zu können oder das Gespräch, vor dem wir zurückschrecken, weil es alle Beteiligte zu sehr schmerzt oder uns schlicht so unangenehm ist, dass wir glauben, alle würden einfach umfallen, wenn man das Thema anspricht. Kleiner Spoiler: Die Angst davor ist meistens größer als die Situation selbst und in den seltensten Fällen fallen wir um. Manchmal ist das aber auch okay: umfallen, entsetzt sein und lernen, weiter zu atmen. Denn es geht ja immer weiter. Nichts hört einfach auf. Morgen geht die Sonne fast genauso spät und wintermüde auf wie gestern. Aber sie geht ganz bestimmt auf. Einfach so. Manchmal nach den schlimmsten Verlusten, fühlt es sich an wie die reinste Frechheit. Manchmal ist es aber auch beruhigend. Es geht weiter und wenn wir uns trauen die großen Fragen zu stellen, kommen wir auch mit dem Krempel klar, der 2023 auf uns zukommt. Ganz sicher.

Viele Grüße aus dem Zug, der uns gen Westen bringt. Wir wollten schauen, ob es da was Neues gibt.

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